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Es reichen wenige, um Großes zu schaffen
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Es reichen wenige, um Großes zu schaffen

Sebastian Pilz
Ein Beitrag von Sebastian Pilz, Katholischer Referatsleiter Diakonische Pastoral/Seelsorge in besonderen gesellschaftlichen Herausforderungen
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Mit strahlenden Augen steht mein 16-jähriger Sohn Matthäus vor mir. Er freut sich auf die Heuernte. Die findet jedes Jahr am kleinen landwirtschaftlichen Hof meines Schwagers statt. Doch in diesem Jahr hat Matthäus den Führerschein und darf auch Traktor fahren. Stolz steigt er auf den roten Traktor und fährt zum letzten Heuwenden. Nach seiner Rückkehr presst der Schwager das Heu zu kleinen Quader-Ballen zusammen, die liegen nun auf drei Feldern und wollen eingebracht werden. Ich kann in diesem Jahr nicht bei der Ernte dabei sein. Aber da ich um die manchmal kritische Personalsituation weiß, rufe ich meinen Sohn auf dem Handy an: Meine Frage lautet: „Wie viele seid ihr?“ Gespannt warte ich auf die Antwort: „Wir sind genug. So sieben, acht Personen sind da.“ Er zählt die Namen jener auf, die sich aus der Großfamilie zur Hilfe bereit erklärt haben. „Es ist ja auch schönes Wetter. Also kein Stress“, so seine Worte am Ende des Telefonats. Ich bin beruhigt. An diesem Nachmittag werden 320 Heuballen mit Muskelkraft erst auf Ladewagen und von da dann in der Scheune verstaut. Damit ist das Futter für die Tiere gesichert. Alle sind müde und erschöpft, aber auch froh, denn die Heuernte ist eingefahren.

„Du brauchst ebe die Leut!“

Mein verstorbener Schwiegervater erzählte mir einmal, welch eine Gemeinschaftsleistung die Ernte früher war. Da waren nicht nur Verwandte, sondern auch Nachbarn und Freunde dabei. Fehlten die, war die Ernte wirklich in Gefahr. Und das konnte für die Tiere, aber auch die wirtschaftliche Existenz gefährlich werden. Geld zum Zukauf von Futter war knapp. Und so musste mehrmals im Jahr die Ernte funktionieren, sei es für das Heu oder dann für die einzelnen Feldfrüchte bis hin zu den Kartoffeln und Futterrüben. „Du brauchst ebe die Leut“, pflegte mein Schwiegervater im hessischen Platt zu sagen. Und ich spürte, wie ernst er das aus existenzieller Sicht meinte.

Die Ernte ist am heutigen Sonntag auch Thema in einem Bibeltext im katholischen Gottesdienst. Es wird eine Stelle aus dem Matthäusevangelium vorgetragen. In der wird berichtet, wie Jesus Mitleid mit den Menschen hat, die er auf seiner Wanderschaft durch die Städte und Dörfer Galiläas trifft. Sie sind müde und erschöpft. Jesus sagt deshalb zu seinen Jüngern: „Die Ernte ist groß, aber es gibt nur wenig Arbeiter. Bittet also den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden!“1, so der Bibeltext wörtlich.

Mit der Ernteerfahrung meines Schwiegervaters im Ohr erkenne ich, welch existenzielle Perspektive in diesen Sätzen steckt: Was ist, wenn keine arbeitenden Menschen gefunden werden? Geht dann die Ernte kaputt? Ist dann das Überleben in Gefahr?

Musik

Zur Zeit Jesu hat die Ernte eine überlebenswichtige Funktion. Die Menschen haben vom Ackerbau gelebt, waren deshalb auch vom Wetter abhängig. Gerade deshalb stellt Jesus in der Bibel auch so viele Bezüge zur Landwirtschaft her, sei es zum Beispiel zur Aussat oder wie in der heutigen Bibelstelle zu den Erntehelfern. Dabei war den Menschen von damals klar: Bei der Ernte geht es um das Überleben, also um die Zukunft der Menschen. In der Bitte um Arbeiter für die Ernte steckt aber noch mehr: Durch eine besondere sprachliche Formulierung im griechischen Urtext wird die Situation als zeitlich äußerst dringend dargestellt2. Es geht hier also nicht nur um etwas Existenzielles, sondern es duldet auch keinen Aufschub.

Diese Dramatik entdecke ich an manchen Stellen auch heute: Da gibt es viele Arbeitsbereiche, die überlastet sind. Meine Frau beispielsweise arbeitet auf einer Kinderintensivstation, wo ständig helfende Hände gesucht werden, um krankheitsbedingt offene Schichten zu übernehmen. Es gibt Kitas, die wegen fehlender Fachkräfte nicht alle Betreuungsplätze belegen können. Auch im kirchlichen Bereich fehlen Menschen, seien es ehrenamtlich Engagierte oder hauptamtliche Aktive. Da muss dann mancherorts alt Bewährtes aufgegeben werden, weil Menschen fehlen, die es vorbereiten oder durchführen.

Gebet für helfende Hände

Und genau in diesen Situationen fühle ich mich in jener Not, wie sie der heutige Bibeltext beschreibt: Dann bete ich oft: Herr, bitte schick Arbeiterinnen und Arbeiter in diese Ernte, will heißen in diesen Arbeitsbereich. Doch oft bleibt eine direkte Antwort aus. Die Lücken im kirchlichen Dienst oder auf der Station meiner Frau bleiben. Eine grundsätzliche Lösung scheint nicht in Sicht. Nur hier und da springt jemand ein und übernimmt einen Dienst. Die Lücke ist dann nur kurzfristig geschlossen. Aber auch das ist ja schon mal ein Anfang.

Im biblischen Text dagegen wirkt es fast wie eine Automatik. Kurz nach der Aufforderung zur Bitte um Erntearbeiter beruft Jesus seine zwölf Jünger, und sie werden namentlich alle von Petrus bis Judas Isakriot aufgezählt3. Mich verwundert, dass es nicht mehr Personen sind. Jesus war doch der Sohn Gottes. Er konnte Menschen von Krankheiten heilen und hatte eine große Anziehungskraft. Mag sein, dass die Zahl Zwölf sich hier symbolisch auf die zwölf Stämme Israels bezieht. Doch für eine so wichtige Aufgabe, wie die Frohe Botschaft in die Welt zu tragen, hätte Jesus doch mit Sicherheit mehr Menschen finden können.

Wie dem auch sei: Diese Zwölf haben für den Anfang des Christentums genügt. Sie waren willensstark, haben ihre Sache ernst genommen und sind fast alle für ihr Bekenntnis zu Jesus als Märtyrer gestorben. Das Christentum hat sich so in alle Himmelsrichtungen ausgebreitet: Ausgehend von diesen Zwölf ist wahrlich eine gute Ernte gewachsen.

Musik

„Wie viele seid ihr?“, so lautet die Frage, die ich meinem Sohn bei der Heuernte stelle. Seine Antwort ist kurz: „Genug.“ So wie die zwölf Apostel für die Ausbreitung des Christentums reichen, genügen auch acht Leute für die Heuernte. Es geht eben nicht immer darum, dass es übermäßig viele Helferinnen und Helfer sind.

Dieser Umstand ist sogar soziologisch belegt. Der französische Agraringenieur Maximilian Ringelmann fand Ende des 19. Jahrhunderts heraus, dass sich beim Tauziehen Einzelne immer weniger anstrengen, desto mehr Personen mitmachen. Die optimale Gruppengröße ist also nicht allzu groß, sonst lehnen sich eben alle etwas zurück. Ein Jahrhundert später findet ein Wissenschaftler der Michigan State University heraus, dass die ideale Gruppengröße wohl bei acht bis neun Personen liegt. Bei einem Schutzprojekt für Pandabären bekamen Privathaushalte den Auftrag, den Wald zu schützen und illegale Abholzung zu vermeiden. Sie erhielten so den Lebensraum der Pandas und bekamen dafür Geld. Dabei wurde deutlich: Haushalte, in denen neun Personen lebten, waren besonders effektiv. Haushalte mit weniger oder aber auch mit mehr Personen waren dagegen nicht so erfolgreich4.

Wenn es drauf ankommt

Dass sieben bis neun Personen ausreichen, um Großes zu erreichen, stelle ich vor gut zwei Wochen am eigenen Leib fest. Ich bin in der Freiwilligen Feuerwehr Biebergemünd Nord. Die Leitstelle alarmiert uns nachts um 3.39 Uhr zu einem Dachstuhlbrand in den Ortsteil Kassel. Vor Ort ist der Brand aber viel größer als gemeldet. Zwei Häuser und ein dazwischenliegender Anbau stehen im Vollbrand. Ein riesiger Feuerball. Die bis zu 20 Meter hohen Flammen erhellen die Nacht. Ich komme mit dem zweiten Löschfahrzeug an die Einsatzstelle. Sofort übernehme ich das Kommando für die Brandbekämpfung auf der linken Seite des betroffenen Areals. Das Ziel ist, ein etwa fünf Meter entfernt stehendes anderes Wohnhaus vor den Flammen zu schützen.

Und da bin ich nun mit meiner Truppe: Es geht um die Existenz der Nachbarn, die Zeit drängt und wir sind sieben. Sascha, Lilly, Felix, Josef, Seno, Mirko und ich. Unser kleines Löschfahrzeug und die Flammenhölle. Wir kämpfen zusammen, spüren die Hitze, sehen, wie die Funken auf uns herabregnen. Schnell bauen wir die Schlauchleitung auf, schließen den Hydranten an und nehmen zwei Strahlrohre vor. Wenig später kommen noch Thorsten und Steffen mit einem Tanklöschfahrzeug dazu. Dann etwas später eine Drehleiter und noch weitere Tanklöschfahrzeuge. Und es klappt. Wir erhalten das intakte Wohnhaus und bekommen nach und nach das Feuer unter Kontrolle. Sechs Stunden dauert allein die Brandbekämpfung. Am Ende sind wir stolz und froh, dass wir es geschafft haben.

Im Rückblick denke ich, dass alle in meinem Löschfahrzeug wussten, dass es in dieser Nacht zählte. Sie waren bereit, nahmen die Herausforderung an und gaben alle Kraft. Wie in der Bibel bei der Ernte ging es um etwas Existenzielles, die Zeit drängte und es waren nur wenige helfende Hände. Die erste Brandbekämpfung mit sieben Einsatzkräften funktionierte genauso wie die Heuernte meines Sohnes mit acht Personen oder die Ausbreitung des Evangeliums mit zwölf. Das gibt mir Trost und Zuversicht: Auch mit wenigen Personen lässt sich Großes bewegen. Noch dazu, wenn Gott mit dabei ist. Das lässt mich froh in die Zukunft und in diesen Sonntag blicken.

 

1Matthäusevangelium Kapitel 9 Vers 37f = Mt 9,37f.

2Siehe Praesens historicum. Vgl. A Sand, Das Evangelium nach Matthäus, Benno-Verlag, Leipzig, 1986, S. 207.

3Mt 10,1-4.

4https://www.wiwo.de/erfolg/ideale-gruppengroesse-neun-freunde-muesst-ihr-sein/8367974.html

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