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Was uns aufblühen lässt
Bild: Pixabay / Marc B.

Was uns aufblühen lässt

Maike Westhelle
Ein Beitrag von Maike Westhelle, Evangelische Pfarrerin, Studienleiterin, Hofgeismar
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Lisa aus der 6a steht vor mir und strahlt: „Heute bin ich dran!“. Andere Kinder fragen: „Bin ich heute dran?“

Das Konzept der Lernbegleitung

Ich unterrichte nicht in der 6a, sondern ich bin Lernbegleiterin in dieser Klasse. Ein neues Konzept, das mich schon jetzt vollkommen überzeugt. Jedes Kind aus der Klasse bekommt regelmäßig 15 – 20 Minuten Zeit nur für sich und seine Anliegen. Wir gehen dann zu zweit in einen ruhigen Raum und das Kind bestimmt das Thema. Der eine kommt nicht richtig mit den Hausaufgaben zurecht, die andere möchte gern mündlich besser werden. Wieder andere leiden unter Leistungsdruck oder fühlen sich schlecht in die Klassengemeinschaft integriert.

In der Lernbegleitung steht das jeweilige Kind im Mittelpunkt

„Bin ich heute dran?“ – das klingt nicht genervt, sondern die Kinder haben Lust auf diese besondere Zeit. Weil es um sie und ihre Themen geht. Weil ich nur zuhöre und auf Wunsch berate. Alle Kolleg:innen in der Lernbegleitung berichten das gleiche: Die Kinder blühen in dieser Zeit sichtbar auf. Weil jemand exklusiv Zeit hat und weil nichts Konkretes erreicht werden muss.

Bei der Lernbegleitung steht das jeweilige Kind im Mittelpunkt und es gibt Zeit, die man sich nicht erkämpfen muss. Sonst sind es oft nur die sehr guten oder die sehr auffälligen Kinder, die die Aufmerksamt auf sich ziehen.

Im Einzelgespräch blüht Lisa auf

Heute hat Lisa schon ihre Sachen unterm Arm und will mit mir losgehen. Sie ist eine von denen, die sonst oft nicht in den Blick kommen. In allen Fächern ohne große Probleme, sie hat Freundinnen gefunden und schwimmt in der Masse einfach so mit. Aber im Einzelgespräch leuchtet sie richtig. Es sprudelt nur so aus ihr heraus. Was in letzter Zeit gut lief und warum Bio doof ist. Wie ungerecht es ist, wenn die Lehrkraft in Deutsch sie einfach nicht drannimmt. Ich höre einfach nur zu; frage nach, wenn mir etwas unklar ist und überlege gemeinsam mit Lisa, wie man die Situation verbessern kann. Die Zeit vergeht wie im Flug. Eine Viertelstunde ist nicht viel. Aber trotzdem genug, um endlich mal gesehen zu werden. Mit einem wohlwollenden, wertschätzenden Blick. 

Was jeder Mensch braucht

Gut, dass es an unserer Schule diese besondere Zeit gibt. Ich bin gespannt, was sich dadurch für alle verändern wird. Für die Schülerinnen und Schüler in der Lernbegleitung hat sich schon etwas verändert: „Ich bin heute dran“, das heißt: ich werde mit meinen Themen gesehen und gehört. Jeder Mensch braucht das: gesehen und gehört zu werden. Nicht nur nebenbei und am Rand. Sondern mit voller Aufmerksamkeit und Wohlwollen. Denn unter solchen Blicken blühen wir auf. 

Auch ich möchte gesehen werden

Lisa blüht unter den wohlwollenden Blicken auf. Solche Blicke brauche ich auch.

Denn oft fühle ich mich nicht wirklich gesehen. Natürlich: jeden Tag sehen mich viele Menschen und mit Freundinnen und Familie bin ich in gutem Kontakt, aber trotzdem: sieht eigentlich jemand, wo es mir zu viel wird oder was ich bräuchte? Hat jemand Zeit und Lust, mich aufmerksam in den Blick zu nehmen? Oft hetzen wir doch nur so durch unseren Tag… 

Eine Begegnung, die was verändert

Bei einer Begegnung hat es dann aber für mich Klick gemacht: Anfang des Jahres gab es Urlaub im Schwarzwald. Schnee und Ski waren die Hoffnung, Regen, Nebel und Kaminfeuer die Realität. Also hatten wir Zeit für Ausflüge und sind einen Tag spontan nach Freiburg gefahren. Wir lassen uns treiben, bewundern den Dom und leihen Fahrräder aus. Dann kriegen wir natürlich irgendwann Hunger. Die Räder haben wir längst wieder abgestellt und wandern durch die Stadt. Die Lokale, aus denen es verheißungsvoll riecht, sind zur Mittagszeit voll besetzt. Auf Pommes haben wir keine Lust, aber inzwischen schwindet der Elan bei der Suche. Ich bin längst „hangry“, diese fiese Mischung aus Hunger und latenter Aggression.

Ein Mann, der hinsieht und hilft

Als wir vor einem Restaurant die grellen Tafeln durchlesen, die das Angebot anpreisen, kommt ein Mann auf uns zu: „Suchen Sie etwas zum Essen? Dann gehen Sie lieber noch ein wenig weiter. Gleich hinten rechts ist die Markthalle. Dort gibt es Stände mit Essen aus der ganzen Welt. Vielfältig und lecker.“

Ein klasse Tipp: Die Gerüche und die fröhliche Atmosphäre bessern meine Laune schlagartig. Und dann gibt es auch noch ein herrliches indisches Curry. Wundervoll! 

„Du bist ein Gott, der mich sieht.“

Erst auf dem Rückweg ist es mir dann aufgefallen: Durch solche Momente kann ich die Jahreslosung verstehen: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ (Gen 16,13) Es muss ja nicht immer gleich das ganze Leben sein, das in den Blick kommt. Die kurze Begegnung in Freiburg war heilsam. Der freundliche Unbekannte hat uns übellaunig vor dem Restaurant gesehen, und ist trotzdem nicht einfach weitergegangen. Er hat hingeguckt und gesehen, was wir brauchen. 

Gottes Spuren im „Gesehen werden“ entdecken

Dieser kleine, heilvolle Blick hat meine Perspektive verändert. Seitdem entdecke ich Spuren des Gesehen-Werdens immer wieder im Alltag. Wenn ein Schüler extra in der Tür wartet, bis ich auch durchlaufe - schwer bepackt und eilig am frühen Morgen. Oder in dem Moment, wenn das Radio das perfekte Lied spielt, um mich aus meinen Grübeleien zu holen. Wenn am späten Abend wunderbarerweise noch ein Parkplatz frei ist und ich nicht noch ewig suchen muss. Kleinigkeiten. Vielleicht Zufälle. Oder Gottes Blick, der mich erreicht. So entdecke ich in Alltagssituationen: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“

Wirkt Gottes Blick auch bedrohlich?

Gottes Blick kann auch bedrohlich wirken. Manchmal wird Menschen damit Angst gemacht:
Im Garten neben der Kirche werden immer wieder Birnen vom Baum gestohlen. Nach einigen Tagen mahnt ein Schild: „Gott sieht alles“.
Am nächsten Tag fehlen wieder Birnen. Und das Schild wurde ergänzt: „Aber er petzt nicht.“

Ein alter Witz, der verdeutlicht, dass Gott eben nicht der literarische Big Brother ist, der alles überwacht. Selbst da, wo Sachen schief gehen, ist Gottes Blick auf den Menschen wohlwollend und heilsam. Heute ist das eine gängige Denkfigur. Aber in der Geschichte des Christentums und selbst bei Jesus galt es das erst zu lernen.

Jesus und die syrophönizische Frau (Mk. 7,24 ff)

Eines Tages ist Jesus im Grenzgebiet, im Norden Israels unterwegs. Hier mischen sich Israeliten und Phönizier und damit auch verschiedene Religionen. „Heiden“ nennen die Juden die Andersgläubigen und man grenzt sich voneinander ab. Dabei ist Abgrenzen damals wie heute das höfliche Wort für eine mühsam befriedete Feindschaft. Leben und Glauben der anderen bleiben suspekt. Auf seiner Reise stellt sich Jesus eine Frau in den Weg. Ihre Tochter ist sehr krank. Nichts und niemand konnte bisher helfen.  

„Hab Erbarmen mit mir!“ 

Also wagt sich die Frau an diesen Mann aus Galiläa. Sie teilt seinen Glauben nicht, aber sie hat Großes von ihm gehört. „Sieh mich an, Meister. Hab Erbarmen mit mir.“ So spricht sie ihn an – und Jesus hört sofort: Das ist keine israelische Frau. Das ist eine von den Phönizierinnen. Barsch weist er sie ab: „Ich bin zu den Kindern Israels gesandt. Es ist nicht recht, ihnen etwas wegzunehmen und es den Hunden vorzuwerfen.“

Puh – ein krasser Vergleich. Kinder gegen streunende Hunde… Die Frau lässt sich von dieser Abfuhr trotzdem nicht aufhalten: „Aber auch die Hunde unterm Tisch bekommen etwas ab von den Krümeln.“

Jesus sieht die Frau und denkt um

Erst jetzt sieht Jesus die Frau wirklich: Da kämpft eine Mutter für ihr Kind. Sie glaubt an das Gute, das dieser fremde Mensch bewirken kann. Religion hin oder her. Darum geht es jetzt nicht. Und tatsächlich: Jesus denkt um: „Geh nach Hause zu deiner Tochter. Dein Glaube hat dir geholfen.“ Als die Frau wieder zuhause ankommt, ist ihre Tochter gesund. (Mt. 15)

Mich fasziniert die Geschichte nicht wegen der Heilung der Tochter. Sie fasziniert mich, weil diese Begegnung so viel bewirkt. Die phönizische Frau verändert den Blick Jesu. Er versteht durch sie, dass er nicht exklusiv zu den jüdischen Menschen gesandt ist. Jesus muss nicht länger Grenzen überwachen.

Gott sieht mich und auch die anderen

Gott will das gute Leben für alle Menschen. Unabhängig von Volkszugehörigkeit, Religion, Gender und all diesen Unterscheidungen. Gott ist nicht nur ein Gott, der mich sieht. Gott sieht auch die anderen. Auch die, die mir fremd sind. Gottes Blick überschreitet unsere Grenzen. 
Vielleicht müsste am Birnbaum im Pfarrgarten deshalb ein ganz anderes Schild hängen: „Greif zu! Gott sieht dich.“

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