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Helau - Hell soll es werden!
Pixabay/Bruno_Germany

Helau - Hell soll es werden!

Pia Baumann
Ein Beitrag von Pia Baumann, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt
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Oje. So spät war ich noch nie. Morgen ist schon Rosenmontag und ich habe keine Ahnung, welches Kostüm ich anziehen soll. Morgen fahre ich nach Seligenstadt. Dort bin ich aufgewachsen. Dort wohnen nach wie vor meine Eltern. Jedes Jahr treffen wir uns für den Fastnachts-Umzug. Die ganze Familie. Also auch ich mit meinen Kindern.

"Der schönste, größte und originellste Rosenmontags-Zug in der Region"

Der Rosenmontagsumzug in Seligenstadt ist klasse. Er ist weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt. Es heißt, mit seinen über 100 Zugnummern sei er der „schönste, größte und originellste Zug in der Region“.[1] Und das stimmt auch, finde ich. Weil die Seligenstädter oder Schlumber, wie sie sich in der Fasnacht selbst nennen, echt alles geben. Das ganze Jahr über arbeiten viele Vereine und Ehrenamtliche auf diesen Tag hin. Die großen Motivwagen werden mit viel Aufwand gebaut, und von den farbenprächtigen Kostümen sind viele von Hand genäht.

Mitmachen kann jeder

Mitmachen kann bei diesem Umzug eigentlich jeder. Man muss sich als Gruppe einfach anmelden. Das weiß ich, weil ich damals als Schülerin in Seligenstadt mit meiner Klasse selbst mitgelaufen bin. Als Clowns – eine kunterbunte Truppe an Teenagern. Und Gutzjer – also Bonbons – zum Schmeißen hatten wir auch dabei. In einem kleinen Bollerwagen. Wir hatten viel Spaß. Und es war schön, wie die Zuschauer uns mit fröhlichem „Sellestadt Helau“ begrüßt haben.

Krieg - Erdbeben - Gedenktag an Anschlag in Hanau - und trotzdem Fasching feiern?

Morgen werden wieder Zehntausende am Straßenrand stehen. Jubelnd, schunkelnd, und verkleidet. Endlich wieder nach den Corona-Einschränkungen der letzten Jahre. Endlich wieder feiern. Aber unbeschwert ist es auch dieses Jahr nicht. Ich bekomme die Bilder aus Syrien und der Türkei nicht aus dem Kopf. Das Erdbeben hat zehntausende Menschen das Leben gekostet. Niemand kann sagen, wie viele verletzt und traumatisiert sind. Das Leid der Menschen zu sehen, ich kann es kaum aushalten. Dazu kommt: Am nächsten Freitag ist es genau ein Jahr her, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist. Mitten in Europa ist Krieg. Und ich denke heute am 19. Februar an die Menschen in Hanau. Heute vor drei Jahren war der Anschlag in Hanau, bei dem ein Rassist zehn Menschen erschossen hat.

Erdbeben, Krieg, die Erinnerung an das Attentat in Hanau. Das ist viel und schwer. Und trotzdem will ich morgen gerne Rosenmontag feiern. Aber ich frage mich: Kann ich in solchen Zeiten guten Gewissens „Helau“ rufen und lustig sein?

Musik

Wie geht es den Menschen hier, die Familie und Freunde in der Ukraine haben?

Ausgelassen Fasnacht feiern. Singen, tanzen, schunkeln. Sich verkleiden. „Helau“ rufen. Wie wirkt das auf Menschen, deren Familien und Freunde in der Ukraine um ihr Leben kämpfen? Ich spreche mit Ana. Eine junge Frau aus dem Stadtteil, in dem ich lebe. Ich kenne sie ganz gut. Sie wohnt schon lange in Frankfurt. Geboren ist sie aber in der Ukraine. Dort lebt auch ein großer Teil ihrer Familie. Ihre Eltern, ihr Bruder mit seiner Frau und seinen Kindern. Ana ist verheiratet. Sie hat eine Tochter, die letztes Jahr hier in Frankfurt in die Grundschule gekommen ist.

Zwei verschiedene Welten, verbunden zwar, aber mit jeweils ganz anderen Realitäten

Ich frage Ana: „Kannst du zurzeit feiern? Dich freuen?“ „Das ist eine wirklich schwierige Frage“, sagt sie. „Ich bekomme sie oft gestellt. Für mich gibt es mein Leben hier. In Frankfurt. Und das Leben dort. In der Ukraine. Das sind wie zwei verschiedene Welten. Wir sind verbunden, aber die Realität ist jeweils eine ganz andere.“

„Wirst du zum Fastnachtsumzug gehen?“, frage ich sie. Sie lacht. „Fasnacht, das ist nicht gerade meine Lieblingsfeier. Das haben wir in der Ukraine nicht.“ „Aber“, sagt Ana, „ich lebe ja in Deutschland. Schon lange. Ich werde natürlich mit meinem Mann und meiner Tochter den Umzug besuchen. Verkleidet. Ich mache das für mein Kind.“

Für einen Augenblick unbeschwert sein

Ana hat noch einen weiteren Grund, warum sie zum Fastnachtsumzug geht, obwohl in ihrem Geburtsland Krieg herrscht. Sie sagt: „Es hilft mir, für einen Augenblick unbeschwert zu sein. Es ist ein bisschen absurd. Aber die Freude anderer hilft mir, das Traurige, das Schmerzhafte, das Unvorstellbare auszuhalten. Mich selber zu freuen. Es ist eine bewusste Freude, die den Schmerz kennt und die Trauer. Ich beobachte die Kinder, wie sie Bonbons fangen und Spaß haben. Ich sehe dann: Das Leben ist nicht nur das, was in der Ukraine stattfindet.“ Ich hake nach: „Und was sagt deine Familie in der Ukraine dazu?“ Ana antwortet: „Wenn ich es schaffe, Freude am Leben zu haben, dann gibt mir das Energie. Wenn ich dann mit meinen Eltern über FaceTime telefoniere, die gerade fünf Stunden im Keller verbracht haben, dann freut sich meine Mutter. Sie sagt dann: Ana, wie schön du strahlst.“

Für andere strahlen können ist wichtig

„Ich glaube“, fährt Ana fort, „diese Freude, dieses Strahlen können, ist unheimlich wichtig. Für mich, aber auch für die Menschen in der Ukraine. Sie suchen jeden Tag etwas, um sich zu freuen.“ Anas Mutter zum Beispiel arbeitet in einem Kindergarten. Jede Woche denken sie sich ein Fest für die Kinder aus. Und feiern. Letztens war es das Seifenblasenfest. Das ist ihr Schutz, das ist ihr Weg, mit dem Krieg fertigzuwerden. Ana unterstützt ihre Mutter dabei, so gut es aus der Ferne geht. Sie sagt: „Ich gebe ihnen von meiner Freude ab. In der Hoffnung, irgendwann wird dieser Krieg zu Ende sein.“

Musik

Kraft nehmen zum Freuen - auch wenn der Tod nah ist

Ana, meine Stadtteil-Nachbarin mit Wurzeln in der Ukraine, will sich trotz des Krieges in ihrer Heimat die Freude nicht nehmen lassen. Ich will von ihr wissen: „Woher nimmst du diese Kraft?“ Ana antwortet: „Es ist jeden Tag eine bewusste Entscheidung, die ich treffe. Ich freue mich an diesem Tag. Ich freue mich und bin dankbar.“ Natürlich fällt das Ana mal leichter und mal schwerer. Sie sagt: „Ich mache mir viel Gedanken. Der Tod ist so nah. Er ist jeden Tag, jede Sekunde da.“

Das Leben ist kostbar geworden

Dadurch ist das Leben für Ana viel kostbarer geworden. Weil es schön ist. Das zu erkennen, dafür hat sie einen hohen Preis bezahlt. Ana sagt: „Aber nicht nur ich. Alle Ukrainer, die ich kenne, sagen: Sie sind dankbarer geworden. Unser Blick hat sich geändert. Weg vom Materiellen, hin zu scheinbaren Kleinigkeiten und Selbstverständlichem. Ich habe mich für das Leben entschieden.“ Ana glaubt daran: Die Freude wird siegen und nicht der Tod. Das lässt sie sich nicht nehmen. Sie sagt: „Das will ich auch zeigen!“ Und sie strahlt dabei.

"Entscheide dich für das Leben. Und für die Freude. Und zeig‘ das auch."

Entscheide dich für das Leben. Und für die Freude. Und zeig‘ das auch. Sagt Jesus in der Bergpredigt. Er formuliert es ein bisschen anders. Jesus sagt: „Ihr seid das Licht der Welt. Lasst euer Licht leuchten. Strahlen. Verdeckt es nicht. Zeigt es. Damit es alle sehen können.“ (Matthäus 5, 14-16) Ana ist für mich so ein Licht in der Welt. Ihre Freude, ihr Strahlen überträgt sich auf mich. Anas Einstellung hilft mir.

Ich habe mich entschieden. Ich werde morgen mit meinen Kindern zum Rosenmontagsumzug nach Seligenstadt fahren. Wir werden uns verkleiden. Und ich werde mich freuen. Ich werde mich an den Motivwagen freuen. An den bunten Kostümen. Über die viele Arbeit, die da drinsteckt. Über die Gutzjer, die wir fangen werden. Ich werde mich darüber freuen, dass ich feiern kann. Dass ich lebe. Dass ich eine tolle Familie habe. Freundinnen. Einen wunderbaren Beruf. Ich werde mich freuen, dass ich mich freuen kann. Es wird eine bewusste Freude sein, die den Schmerz, das Unglück und die Trauer nicht ausblendet.

"Helau! Hell soll es werden"

Und ich werde „Helau“ rufen. Denn ich habe im Internet nachgeschaut, was dieses Wort eigentlich bedeutet. Es gibt verschiedene Theorien. Eine besagt, es kommt von dem Wort „aufhellen“. Die andere Theorie leitet es von „Halleluja“ ab. Übersetzt: Lobt Gott. Wie passend und wie wunderbar. Helau – ein Weckruf. Ein kleines Gebet.

Helau! Hell soll es werden. Das wünsche ich mir. Helau für Ana und ihre Familie in der Ukraine. Helau für alle Jecken, Närrinnen und Schlumber, die so wie ich morgen Rosenmontag feiern. Helau für die Menschen, für die es wieder hell werden soll. Denn das Leben wird siegen. Nicht der Tod. Gelobt sei Gott.

 


[1]www.heimatbund-seligenstadt.de/fastnacht/rosenmontagszug

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