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Sehnsucht nach dem Paradiesgarten
Bild: Pixabay/Ralphs Fotos

Sehnsucht nach dem Paradiesgarten

Anke Haendler-Kläsener
Ein Beitrag von Anke Haendler-Kläsener, Evangelische Krankenhauspfarrerin, Flieden
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Sobald im Frühjahr die Gartensaison beginnt, geht mir das Herz auf.

Der Schnee schmilzt. Die Schneeglöckchen bohren sich durchs Erdreich. Der Frost lässt nach. Bald flattern erste Blumenkataloge und Wurfsendungen des nächsten Gartencenters ins Haus. Ich kann anfangen zu träumen von prächtigen farbfrohen prallen Gärten – oder auch von überquellenden bunten Balkonkästen.

Die kleinen Tütchen mit Saatgut in meinem Laden lachen mich an. Blumenwiese – Gemüse verschiedenster Geschmacksrichtung – einjährige und mehrjährige Pflanzen – all das ist in diesen kleinen Papiertüten versteckt. Ich kann kaum widerstehen und kaufe oft viel zu viele davon. Ich bin keine Biologin mit naturwissenschaftlichem Verständnis. So fasziniert es mich, wie so viel Pracht in so einem kleinen Beutel versteckt ist. Darüber kann ich einfach nur staunen.

Welch eine Überraschung, wenn ich zuhause das Tütchen aufreiße und hineinschaue: winzige Samenkörner, manchmal kaum mit dem Auge zu erkennen, unbedeutend und klein.

Wie kann es sein, dass darin eine ganze Blumenwiese enthalten ist oder Zucchini und Gurken – oder sogar eine riesige Sonnenblume? Ich stelle mir vor, dass in diesem einen Körnchen die ganze Pflanze zusammengefaltet schon drin ist. Das stimmt biologisch wahrscheinlich nicht. Aber irgendwie ist es ja doch so. Alles ist schon angelegt: Größe, Farbe, Blätterform, Duft. Jedes Korn ist individuell und unverwechselbar. Aus einem Zucchinisamen kann keine Rose wachsen.

Ein Wunder Gottes.

Musik: Antonio Vivaldi, Concerto “L’Amoroso” RV 271, 1.: Allegro

Ich bin gern in meinem Garten und fühle mich dort dem Schöpfer nahe. In den letzten Jahren allerdings sehe ich einen Unterschied, und diesmal fällt er mir besonders ins Auge: Der Rasen hat sich braun verfärbt. Die Pflanzen sind durstig. Schon seit Wochen hoffe ich auf den erlösenden Regen. Aber er lässt auf sich warten. Ich träume von einem beständig tröpfelnden Landregen, der am liebsten tagelang fallen soll. Ein Regenschauer, unter dem sich die Blumen aufrichten und ihre Köpfe ihm entgegenstrecken.

Nicht so bedrohlich wie im letzten Jahr natürlich: Da konnte die trockene Erde den heftigen Regen nicht aufnehmen. Die Wasserfluten haben viel Leid angerichtet.

Aber mein Garten braucht Wasser, er braucht dringend etwas zu trinken. Wenn es dann noch um die 30 Grad heiß wird, sieht er jämmerlich aus.

Ich muss extrem viel gießen und bewässern, wenn die Pflanzen aus den kleinen Tüten mit Saatgut gedeihen sollen.

Der Landkreis Fulda, in dem ich wohne, hat das Entnehmen von Wasser aus öffentlichen Gewässern verboten. Ein Notstand ist eingetreten. Bisher hatte ich den Klimawandel nur theoretisch im Kopf verstanden. Jetzt aber erlebe ich ihn hautnah.

Und ich vor meinem inneren Auge sehe ich den Schöpfer, der darüber traurig ist. Wie können wir die Schöpfung bewahren?

Musik: Antonio Vivaldi, Concerto “L’Amoroso” RV 271, 2.: Cantabile

Wer im Garten arbeitet, tut ganz elementare Arbeit. Er wühlt im Mutterboden und setzt Pflanzen ein. Es geht um Erde, Wasser, Wurzelwerk. In allen Ländern und Kulturen arbeiten die Menschen im Garten. Gartenarbeit ist völkerverbindend.

Ich vermute, genau deshalb steht in der Bibel so viel von Pflanzen. Immer wieder werden Vergleiche aus der Natur herangezogen, um etwas zu verdeutlichen. So beginnt die Bibel ganz vorn mit dem Schöpfungsbericht: Pflanzen und Tiere werden erschaffen samt allen Himmelskörpern. Gott setzt die Menschen mitten in den Garten Eden, ins Paradies hinein. Es gibt wunderbare Darstellungen davon in der Kunst: bunte Farben, pralle Bäume und Sträucher. Dieser Garten ist die Urform des Lebens. So muss gutes, gelingendes Leben sein. Gartenarbeit hat deshalb immer etwas von Sehnsucht nach dem Paradies.

Die Sehnsucht nach dem Jenseits, nach der Erlösung am Ende der Zeiten drückt sich auch in Gartenbildern aus. Der Prophet Jesaja träumt:

Die Wüste und Einöde werden frohlocken, und die Steppe wird jubeln und wird blühen wie die Lilien. Sie wird blühen und jubeln in aller Lust und Freude. (...) Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen. (Jesaja 35,1.6 + 7)

Das klingt paradiesisch – besonders in einem Wüstenland wie Palästina oder Israel. Aber auch in meinen Ohren, wenn ich meinen dürstenden Garten betrachte.

Musik: Antonio Vivaldi, Concerto “L’Amoroso” RV 271,1.: Allegro

Auch Jesus erzählt im neuen Testament oft von Natur und Gartenarbeit. Er spricht Menschen auf das an, was sie kennen. Er erinnert sie an das, womit sie vertraut sind und worin sie sich zuhause fühlen. Dieses Vertraute verknüpft er mit seinen Erzählungen vom Reich Gottes. Er will seinen Zuhörerinnen und Zuhörern damit zu verstehen geben: Gott ist bei euch. Er ist nah dran an dem, was euch wichtig ist. Gott ist ein Bestandteil eures Lebens.

Jesus wählt Beispiele aus Flora und Fauna, wenn er seinen Jüngern und Jüngerinnen etwas klarmachen will.

Die Apostel sprachen zu dem Herrn: Stärke uns den Glauben! Der Herr aber sprach: Wenn ihr Glauben hättet so groß wie ein Senfkorn, dann könntet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiß dich aus und versetze dich ins Meer!, und er würde euch gehorchen. (Lukas 17,5 + 6)

Die Menschen zurzeit Jesu wussten: Die Wurzeln des Maulbeerbaums sind besonders stabil und kräftig. Er lässt sich nicht leicht von jedem Wind aus dem Erdreich heben, sondern steht fest und unverrückbar. Maulbeerbäume können gut und gerne 600 Jahre lang an einer Stelle stehen, ohne zu wanken. Sie sind der Inbegriff von Kraft und Beständigkeit.

Ausgerechnet dieser solide urwüchsige Maulbeerbaum nun soll durch den Glaubender Christen ausgerissen und ins Meer versetzt werden? Das kann man sich nicht vorstellen. Vor allem dann nicht, wenn es sich um Glauben von der Größe eines Senfkorns handelt. Denn das ist winzig.

Ein solcher Glaube kann einen starken Baum dazu bewegen, sich ins Meer zu stürzen? Es ist paradox.

Warum hat Jesus diese paradoxe Geschichte erzählt? Eine Antwort ist zu finden, wenn wir die Ausgangsfrage der Bibelstelle in den Blick nehmen.

Die Jünger bestürmen Jesus mit einer Bitte: Stärke uns den Glauben! Es geht ihnen also um etwas ganz Zentrales: um den Glauben, die Beziehung zu Gott. Die Jünger wünschen sich, dass diese Beziehung gestärkt werden möge.

Durch den Kontakt mit Jesus spüren die Menschen um ihn herum, wie eng sein Verhältnis zu Gott ist.

Er spricht täglich mit Gott im Gebet, und er ringt mit ihm in schwierigen Augenblicken. Jesus lebt aus dem Vertrauen, dass Gott bei ihm ist - in jedem Augenblick seines Lebens. Dieser Glaube und dieses Vertrauen füllen ihn aus.

Dagegen kommt den Jüngern und Jüngerinnen ihr eigener Glaube oft schwach und defizitär vor. Er wird so leicht verunsichert. Sie kämpfen so schnell mit Zweifeln und unterliegen ihnen. Darum ist es ihr inniger Wunsch, dass ihr Glaube stärker wird. Er soll gewässert werden und wachsen.

Deshalb erzählt ihnen Jesus das paradoxe Bild von Senfkorn und Maulbeerbaum:

Ihr haltet das Senfkorn in eurer Hand und könnt es anschauen. Es ist da – vielleicht klein und unscheinbar, aber handfest. Ihr solltet vorsichtig damit umgehen und aufpassen, damit es euch nicht zwischen den Fingern hindurchflutscht. Wenn ihr es einpflanzt, müsst ihr gute Erde auswählen, ihr müsst das Korn düngen und mit Wasser gießen. Es geht auf und wächst zu einem großen Senfbaum heran. Aber in diesem kleinen Körnchen ist schon alles enthalten: Wurzeln, Stamm, Blätter... alles liegt wie zusammengefaltet in diesem kleinen Korn. Wie in der kleinen Tüte aus meinem Supermarkt.

So ist es auch mit dem Glauben des Menschen.

Er ist ein kleines Pflänzchen, angefochten und verletzlich zart. Er ist leicht zu erschüttern. Er lässt sich schnell in Frage stellen. Er ist noch nicht verlässlich und tief gegründet. Aber er ist da!

Und das ist es, was Jesus sagen will: Lass dich nicht verunsichern von den Skeptikern, die dir spöttisch den Glauben absprechen. Lass dich auch nicht verunsichern von denjenigen, die vermeintlich so selbstsicher und unangefochten sind in ihrem Glauben. Dein Glaube ist vielleicht nur klein wie ein Senfkorn, aber er ist da. Du glaubst. Darauf kommt es an.

Jesus sieht den Senfkornglauben und weiß, was daraus werden kann. Zwar ist das Senfkorn besonders klein, aber es ist auch stur und durchhaltefähig. Wenn es eingepflanzt ist, dann bleibt es in der Erde und wartet geduldig darauf, bis Wasser es zum Wachsen bringt. Das kann dauern. Aber es ist hartnäckig.

Einmal gegossen und gekeimt, breitet es sich aus wie Unkraut. Aus Kleinem kann Großes hervorgehen. So ist es in der Natur, so ist es auch im Reich Gottes.

Musik: Antonio Vivaldi, Concerto “L’Amoroso” RV 271, 1.: Allegro

Der Glaube an Gott ist wie eine Pflanze, die in einem Garten gehegt und gepflegt wird. Schon in der Bibel werden solche Vergleiche aus der Natur gezogen. Sie prägen sich ein und sind anschaulich. Durch alle Zeiten hindurch hat die üppige Schönheit der Natur die Menschen erfreut und zu Lobliedern inspiriert. Selbst in schweren Zeiten bleibt ihre Schönheit bestehen: Sie kann Trost geben.

Paul Gerhardt ist einer der beliebtesten Liederdichter, obwohl er im 17. Jahrhundert lebte. Aber seine Texte und seine Musik gehen bis heute ans Herz.

Ich mag besonders das Lied „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“ (Evangelisches Gesangbuch 503). Es klingt beim ersten Hinhören fröhlich und heiter. Dabei war das Leben des Dichters ganz anders.

Paul Gerhardt hat in jungen Jahren seine Eltern verloren. Er studiert Theologie, wird aber vom Kurfürsten von seiner geliebten ersten Pfarrstelle in Berlin vertrieben. Vier seiner fünf Kinder sterben und schließlich auch noch seine Ehefrau. Zudem fällt fast die Hälfte seines Lebens in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Sein Leben ist alles andere als leicht und unbeschwert. Er muss sich immer wieder mit Tod und Krankheit auseinandersetzen. Sein Leben ist voller Brüche und Schrammen. Es ist manchmal kaum auszuhalten.

Trotzdem sieht er die Schönheit der Schöpfung um sich herum und besingt sie in einem Loblied. Allen seinen Schicksalsschlägen zum Trotz hält er an Gott fest.

In den ersten Strophen von „Geh aus, mein Herz“ besingt Paul Gerhardt Naturereignisse: die liebe Sommerzeit, der schönen Gärten Zier, Narzissus und die Tulipan, die hochbegabte Nachtigall, den schnellen Hirsch, das leichte Reh, die unverdrossne Bienenschar und vieles mehr. Dabei geht es ihm nicht um ein vordergründiges Naturspektakel. Es sind alles „Gottes Gaben“, die ihn zum Lob Gottes anstiften. Auch der lange Krieg konnte dieser prächtigen Natur nichts anhaben. Die Schönheit der Schöpfung macht ihn andächtig und lässt das Lob Gottes aus seinem Herzen rinnen. Der Glaube umfasst also viel mehr als den Verstand oder die Beobachtungsgabe; er umfasst alle Sinne.

Wenn die Erde hier schon so schön ist, wie mag es dann erst bei Gott selbst sein:

Ach, denk ich, bist du hier so schön,
und lässt du´s uns so lieblich gehen
auf dieser armen Erden;
was will doch wohl nach dieser Welt
dort in dem reichen Himmelszelt
und güldnen Schlosse werden?

Paul Gerhardt vertröstet nicht aufs Jenseits, sondern er argumentiert andersherum: Wenn die Erde hier schon so schön ist, wie viel schöner wird es bei Gott sein. Dort werden Frieden und Gerechtigkeit herrschen. Er macht Lust auf den Himmel, indem er dessen Seligkeit mit starken Bildern beschreibt: Er vergleicht ihn mit einem lichtdurchfluteten Garten voll herrlicher Pflanzen und Blumen. Sie verströmen betörende Düfte. Es ist der wiedergefundene Paradiesgarten.

Welch hohe Lust, welch heller Schein
Wird wohl in Christi Garten sein!

Gestärkt durch die Hoffnung auf das Paradies bekommt der Christ Kraft, hier auf Erden in Gottes Sinne zu wirken. Er will nicht „gar stille schweigen“, sondern aktiv werden. Er will „viel Glaubensfrüchte ziehen“.

Mach in mir deinem Geiste Raum,
dass ich dir wird ein guter Baum,
und lass mich Wurzel treiben.
Verleihe, dass zu deinem Ruhm
ich deines Gartens schöne Blum
und Pflanze möge bleiben.

Erwähle mich zum Paradeis
und lass mich bis zur letzten Reis
an Leib und Seele grünen,
so will ich dir und deiner Ehr
allein und sonsten keinem mehr
hier und dort ewig dienen.

Das höre ich in diesem Jahr wieder mit ganz neuen Ohren.

Die Natur um uns herum kann gerade in schweren Zeiten auf Gott verweisen. Der Schöpfer verlässt uns nicht. Ausgerechnet der Atheist Berthold Brecht hat gesagt: „Eine Blume kann fromm machen, sie kann spüren lassen, Gott hält zu seiner Schöpfung.“

Gott ist trotz allem bei uns: trotz Pandemie. Trotz Krieg. Trotz Klimakatastrophe. Ich möchte jede kleine Blume, die sich durchs trockene Erdreich bohrt, als einen Fingerzeig verstehen: Gott verlässt uns nicht. Er lässt uns aufblühen.

Musik: Antonio Vivaldi, Concerto “L’Amoroso” RV 271, 3.: Allegro

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