Das neue Jahr, ein Labyrinth
Musikauswahl Ricarda Moufang: Georg Philipp Telemann, Sechs Trios (1718)
Im Garten unseres Exerzitienhauses in Hofheim ist ein Labyrinth angelegt. Hecken und Stauden, die zu unterschiedlichen Zeiten in verschiedenen Farben blühen, frieden die fast 500 Quadratmeter große, runde Fläche ein. In diesem geschützten Raum kann ich verweilen, zur Ruhe kommen und meinem Weg nachspüren. Die kreisrunde Fläche des Labyrinths sieht aus wie ein Kuchen, der in vier große Stücke geschnitten ist. In der Mitte eine Insel, das Ziel des rund 500 Meter langen Weges. Zum Glück ist ein Labyrinth kein Irrgarten, wo ich mich hoffnungslos verlaufen kann. Nein, hier komme ich trotz vieler Umwege und Wendungen ans Ziel in der Mitte. Wenn ich gemächlich gehe, brauche ich hin und zurück gut eine halbe Stunde. Dort im Labyrinth möchte ich heute, sobald es hell ist, das neue Jahr 2022 beginnen.
Balance halten und nicht aus dem Gleichgewicht bringen lassen
Labyrinthe sind in der Regel auf ebenen Flächen angelegt, bei manchen sind außerdem die Wege mit Steinplatten gepflastert. Also kann man leicht darauf gehen. Bei unserem Labyrinth ist es anders. Das Exerzitienhaus liegt an einem Hang, der zum Kapellenberg hin langsam aufsteigt. Das Gartengelände ist schräg. Es gilt, beim Gehen die Balance zu halten. Ein gutes Stichwort für das neue Jahr: Ich will Balance halten - mich nicht von den kleinen oder auch größeren Unebenheiten aus dem Gleichgewicht bringen lassen. Und ich will dabei mit den Augen den Boden abtasten. Achtgeben, worüber ich stolpern könnte. - Ich rechne mit manchen Unebenheiten, ja sogar mit Stolpersteinen in diesem Jahr. Die Schräglage ist unübersehbar. Da wird es nicht leicht sein, die richtige Balance zu finden.
Musik 1: Georg Philipp Telemann, Trio I für Oboe, Violine und Basso continuo in b-moll (B flat major), TWV 42, B1 - 1. Satz: Vivace
Meine Freiheit endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt
Es kann sehr schwierig sein, im Alltag und im Zusammenleben mit anderen die richtige Balance zu finden. Derzeit ist es vor allem die Balance zwischen Freiheit und Solidarität, die uns herausfordert. Ein großer Herzenswunsch am Beginn dieses Jahres ist, bald die Freiheit wieder zu erlangen, die wir gewohnt sind. Die Freiheit, uns bewegen zu können, wo wir wollen, die Freiheit, Kontakte zu pflegen, so viel und mit wem wir wollen, die Freiheit, ungehindert am sozialen und kulturellen Leben teilzunehmen. Wie gut, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes dort die Freiheitsrechte fest verankert haben: Das Recht, unsere Meinung frei zu äußern, das Recht, über Beruf, Wohnort, Weltanschauung und Lebensform selbst zu entscheiden. Dabei gilt jedoch, was der Philosoph Immanuel Kant gesagt hat: Meine Freiheit endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. Keine Frage: Unsere Freiheiten sind derzeit drastisch eingeschränkt. Eine der größten Herausforderungen der kommenden Monate wird es sein, die bedrückende Pandemie in den Griff zu bekommen. Ich gehöre zu einer Hochrisikogruppe und muss darum besonders aufpassen. Aber es geht ja nicht nur um mich. Ich denke an die vielen, die auf den Intensivstationen der Kliniken um Luft ringen. Ich denke an die Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte, die seit Monaten Überstunden machen, um Menschenleben zu retten. Ich denke an die Eltern, die sich Sorgen machen um ihre Kinder.
Solidarität ist die Herausforderung des neuen Jahres
Aus dieser Pandemie kommen wir nur, wenn wir zusammenstehen. Das gilt über alle Grenzen hinweg. Die Corona-Variante Omicron hat uns noch einmal bewusst gemacht: Wir in Europa kommen nur dann aus der Krise, wenn auch die Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika geschützt werden. Unsere Gesundheit hängt davon ab, dass wir, die reichen Länder, den ärmeren genügend Impfdosen und Medikamente zur Verfügung stellen. Solidarität ist die Herausforderung des neuen Jahres. Das gilt auch für viele andere Probleme, etwa für die drohende Klimakatastrophe.
Musik 2: Georg Philipp Telemann, Trio II für Recorder, Violine und Basso continuo in a-dur, TWV 42: a1, 2. Satz: Vivace
Gut auf den Weg schauen und vorsichtig gehen
Unser großes begehbares Labyrinth beim Exerzitienhaus ist auf einer Streuobstwiese angelegt. Vor vielen Jahren hat hier ein Bruder des Klosters Äpfel- und Birnbäume angepflanzt. Beim Bau des Labyrinths blieben sie erhalten, Gott sei Dank. Auch wenn diese Bäume unbeweglich im Weg stehen und mich zwingen, einen kleinen Bogen um sie zu schlagen, möchte ich keinen von ihnen missen. Und wenn sie im Herbst ihr gelbes Laub abwerfen und der schmale Weg nur mit Mühe zu sehen ist, dann zwingt mich das, gut auf den Boden zu schauen und vorsichtig zu gehen.
Ich habe das Gefühl die Wurzeln des Baumes unter der Erde zu spüren
Einen dieser Bäume mag ich besonders. Dabei ist er nicht gerade schön. Flechten überziehen den Stamm, seine Äste sind vom Alter gezeichnet, und die Rinde zeigt viele Risse. In den langen Jahren hat er viel ausgehalten: Hitze, Stürme, Trockenzeiten. Die Naturgewalten und möglicherweise auch Tiere haben ihm manche Verletzungen zugefügt. Er hat überlebt. Mehr noch: Jahr für Jahr zeigt der Baum im Frühling seine weiß leuchtenden Blüten, und im Herbst wachsen schmackhafte Früchte. Vor diesem Baum stehe ich gerne. Dann habe ich das Gefühl, seine Wurzeln unter der Erde zu spüren. Sie verzweigen sich weit und reichen sehr tief. Wie groß muss die Kraft dieser Wurzeln sein, um dem Baum Halt zu geben. Wie groß muss die Energie sein, die sie aus der Erde ziehen. Der Baum braucht eine große Menge Wasser und Nährstoffe.
Der Baum verweist mich auf meine unsichtbaren Wurzeln
Ich habe vor, mich heute, am ersten Tag des neuen Jahres, von diesem Baum inspirieren zu lassen. Er wird mich an meine eigenen Wurzeln erinnern. Im Grunde weiß ich, dass auch sie tief reichen und mir Halt geben. Noch ist dieses Jahr 2022 wie ein unbeschriebenes Blatt. Ich habe keine Ahnung, was kommen wird. Es wird vermutlich gute und schlechte Tage geben: Ich kann mich jetzt schon auf vieles freuen: auf schöne Urlaubstage und Begegnungen mit lieben Menschen. Auf Bücher, die ich mit Freude lesen werde, auf erholsame Spaziergänge. Aber es wird auch Enttäuschungen geben: Konflikte, gefährliche Situationen, vielleicht auch gesundheitliche Einschränkungen. Der Baum im Labyrinth mit seinen Verwundungen, aber auch mit seinem Willen zu wachsen ist für mich ein Bote, gewissermaßen ein Neujahrsengel. Er verweist mich auf meine unsichtbaren Wurzeln, die mir Halt und Nahrung schenken. Er verweist mich auf den Gott, den der Prophet Jesaia im Kapitel 46 seines Buches zu seinem müden und von Krisen geschüttelten Volk sagen hört:
»Hört, (...) sagt der Herr. »Ich habe euch getragen, seit es euch gibt; ihr seid mir aufgeladen, seit ihr aus dem Mutterleib kamt. Und ich bleibe derselbe in alle Zukunft! Bis ihr alt und grau werdet, bin ich es, der euch schleppt. Ich habe es bisher getan und ich werde es auch künftig tun. Ich bin es, der euch trägt und schleppt und rettet!“
Ich bin es, der euch trägt und rettet
Wird uns dieser Gott auch durch das neue Jahr 2022 tragen und schleppen? Wird er uns durch die verschlungenen Wege unseres Labyrinths begleiten? Ich hoffe es und bete darum.
Musik 3: Georg Philipp Telemann, Trio V für Violine, Viola da gamba und Basso continuo in g-moll, TWV 42: g1, 2. Satz: Vivace
Mein Lebensweg ist keine Autobahn, schon eher ein verschlungener Pfad
Einmal traf ich am Eingang des Labyrinths einen Mann, der dastand und den Kopf schüttelte. „Wie kann man nur immer im Kreis laufen“, meinte er. Ich zeigte auf die Mitte: „Das Labyrinth hat ein Ziel“. Mein Gesprächspartner lachte mich aus: „Ich muss doch nicht eine halbe Stunde wie die Katze um den heißen Brei schleichen, um dorthin zu kommen. Ich kann doch den direkten Weg gehen, dann bin ich in zehn Sekunden dort“. Ich vermute, viele denken so wie dieser Mann: Suche immer den direkten Weg! Für mich ist dieses „möglichst direkt, möglichst schnell, möglich effektiv“ eine der Irrlehren unserer Zeit. Mit tragischen Folgen, wie wir heute wissen. Die Begradigung der Bäche und Flüsse feierte man vor 50 Jahren als große Errungenschaft. Spätestens seit der großen Flutkatastrophe im Ahrtal wissen wir, wohin das führt. Die Natur wusste es schon vorher: Gewundene Bäche und Flüsse sorgen für die Bewässerung der Felder und schützen vor Überschwemmungen. Der direkte Weg ist nicht immer der beste Weg. Das Labyrinth gibt mir diese Lehre. Nach jedem Halbkreis, den ich gehe, stoße ich an eine Kehre. Ich tue mir keinen Gefallen, wenn ich sie überschreite. Und auch nicht, wenn ich mich darüber ärgere, dass ich umkehren muss. Mein Lebensweg ist keine Autobahn, schon eher ein verschlungener Pfad - wie der eines Labyrinths. Ich brauche die Geduld, ihn in der ganzen Länge und mit all seinen Windungen zu gehen. Wenn ich die Kehren akzeptiere und dem Weg folge, auch wenn er anders läuft als ich vermute, werde ich sicher ans Ziel kommen.
Auf langen und hindernisreichen Wegen
Heute wird in den Gottesdiensten in der katholischen Kirche als Bibeltext der so genannte aaronitische Segen gelesen. Auf dem langen und hindernisreichen Weg, den das Volk Israel durch die Wüste ging, hat Mose seinem Bruder Aaron diesen Segen Gottes zugesprochen, den er weitergeben sollte an alle und für alle Zeiten. Bis heute hat er im jüdischen Gottesdienst und in der christlichen Liturgie seinen festen Platz.
„Der HERR sprach zu Mose: Sag zu Aaron und seinen Söhnen: Sosollt ihr die Israeliten segnen; sprecht zu ihnen: Der HERR segnedich und behütedich. Der HERR lasse sein Angesicht über dich leuchtenund sei dir gnädig. Der HERR wende sein Angesicht dir zuund schenke dir Frieden. Sosollen sie meinen Namenauf die Israeliten legen, und ich werde sie segnen.“ (3. Mos 22-26)
Musik 4: Georg Philipp Telemann, Trio III für Querflöte, Violine und Basso continuo in g-dur, TWV 42: G1, 4. Satz: Vivace
Wie Theseus setzt auch Christus sein Leben aufs Spiel
Das Labyrinth in unsrem Garten im Exerzitienhaus in Hofheim ist dem Labyrinth in der Kathedrale zu Chartresnachgebildet. Bis heute wird diese mittelalterliche Wallfahrtskirche jährlich von Millionen Menschen besucht. Nachdem im Jahr 1194 die alte romanische Kirche einer Feuersbrunst zum Opfer gefallen war, bauten die Stadtbewohner die heutige Kathedrale im gotischen Stil. Sie sollte neue Maßstäbe für den Kirchenbau setzen. In ganz Europa. Ihr Baumeister Villard de Honnecourt entwarf auch das berühmte Labyrinth. Aus der Vogelperspektive ist deutlich das Kreuz sichtbar. Es teilt die Kreisfläche in vier Abschnitte. Die Wege winden sich um die Kreuzform herum. In der Mitte waren ursprünglich die Gestalten von Theseus und Minotaurus dargestellt. Der griechischen Sage nach war Minotaurus ein stier-förmiges Ungeheuer, das im Inneren eines riesigen Labyrinths hauste und vom König von Athen alle neun Jahre sieben junge Frauen und sieben junge Männer als Opfer forderte. Nur so garantierte er, die Stadt in Ruhe zu lassen. Der junge Theseus meldete sich freiwillig als eines der geforderten Opfer, er drang in das Labyrinth ein und tötete das Ungeheuer. Villard de Honnecourt, der Baumeister des Labyrinths in Chartres sah offensichtlich in Theseus eine Symbolfigur für Christus. Wie Theseus setzt auch Christus sein Leben aufs Spiel. Freiwillig gibt er sein Leben hin, um uns zu erlösen. Die mutige Parallele, die der Baumeister der Kathedrale zu Chartres zwischen Theseus und Jesus Christus zog, ist ein Zeichen der religionsüberschreitenden Sehnsucht aller Menschen nach Erlösung. Ich finde es schade, dass spätere Generationen das symbolträchtige Bild durch eine schöne, aber doch eher ausdrucksschwache Rosette ersetzt haben.
Zeichen von Aufbruch und Zuversicht auf unseren Wegen entdecken
In unserem Hofheimer Naturlabyrinth bildet eine grüne Rasenfläche den Mittelpunkt. Wenn wir hier Gottesdienst feiern, steht ein kleiner Altar in der Mitte, Symbol für den gekreuzigten und auferstandenen Christus. Ich bin sicher: In diesem nun begonnenen Jahr 2022 wird uns das Kreuz im vielfältigen Leid der Menschen und Geschöpfe begegnen. Hoffentlich werden wir auch die österlichen Zeichen von Aufbruch und Zuversicht auf unseren Wegen entdecken.
Musik 5: Georg Philipp Telemann, Trio IV für zwei Violinen und Basso continuo in D-dur, TWV 42: D1, 4. Satz: Presto
Ein gewagtes Vorhaben
Meist gehe ich den Weg in unserem Natur-Labyrinth in Hofheim allein. Da kann ich mir Zeit lassen. Mal hier und mal dort stehen bleiben. An einer Kehre überlegen, welche Wende bei mir gerade ansteht. Anders ist es, wenn ich den Weg mit mehreren gehe. Ich erinnere mich an eine Seminargruppe, mit denen ich ein Wochenende gestaltet habe. Thema: „In Würde älter werden“. Am Sonntagmorgen lud ich die Gruppe zu einem Gang durchs Labyrinth ein. Ein gewagtes Vorhaben, denn einige kamen mit Gehstock. Es brauchte ein paar Minuten, bis die Gruppe still wurde. „Bitte betreten Sie nacheinander und im Schweigen das Labyrinth“, sagte ich zu Beginn. „Gehen Sie einzeln auf das Zeichen der Klangschale hin. Lassen Sie einen guten Abstand, damit alle ihr Tempo finden können.“
Wir haben ohne Worte Gemeinschaft gespürt
Als alle in der Mitte angekommen waren, haben wir uns ausgetauscht. Eine Teilnehmerin meinte: „Es war gar nicht so leicht auf meinen eigenen Weg und gleichzeitig auf die anderen vor oder neben mir zu achten.“ Eine andere sagte: „Ich fand es schön, dass wir nach einer gewissen Zeit ein gemeinsames Tempo gefunden haben. Wir haben ohne Worte Gemeinschaft gespürt.“ Ein Herr mit Gehstock strahlte: „Ich bin stolz, dass ich es trotz meiner Behinderung geschafft habe, mit euch diesen Weg zu gehen.“
Wir werden die Wege durch das Jahr 2022 nur gemeinsam meistern
Wenn ich heute ganz allein den Weg durch das Labyrinth gehen werde, wird auch diese Erfahrung mitschwingen. Wir werden die Wege durch das Jahr 2022 nur gemeinsam meistern. Es wird gut sein, einander wahrzunehmen. Zu hören und zu sehen, wer vor mir, hinter mir und neben mir geht. Mich auf die anderen einzustellen, auf ihr Befindlichkeit, ihr Tempo, auf ihre Gewohnheiten. Mich auf die Mitte einlassen. Horchen, was Gott mir in diesem Jahr sagen will. So kann mein Weg durch das Jahr 2022 gut werden.
Ein Gedicht wie ein Gebet – das Antlitz der Liebe
Im Grunde ist das Labyrinth ein stummes, aber doch sehr sprechendes Gebet. Wie ein Gebet war für mich auch das Gedicht, das eine Kursteilnehmerin nach dem Gang durch das Labyrinth geschrieben hat und mit dem ich enden möchte.
Am Anfang
sieht es so leicht aus
Die erste Biegung
ist noch amüsant
so viel zu entdecken
Und plötzlich
siehst du das Ziel nicht mehr
An jeder Kehrtwende
stehen sie
gelähmt
erschöpft vom Zaudern
Geh weiter, geh weiter
denn es gibt nur
diesen Weg
Am Ende schau zurück -
der rote Faden leuchtet
Und das ist es:
Das Antlitz der Liebe.
Musik 6: Georg Philipp Telemann, Trio für Violine, Violoncello und Basso continuo in F-dur, TWV 42: F1, 3. Satz: Presto