Volkstrauertag - "Mama, war Opa auch bei den Soldaten?"
Als unsere Tochter Paula klein war, liebte sie es, bei Oma und Opa in Hamburg zu sein. Stundenlang konnte sie zusammen mit ihren Großeltern im Wohnzimmer Höhlen bauen. Opa lieh ihr seine Taschenlampe, und Oma servierte hinterher Waffeln. Kinder haben ja einen genauen Blick, und so bemerkte Paula natürlich, dass Opas Kinn voller Narben war. Ein Teil seiner Lippe war taub, und so tropfte manchmal ein wenig Spucke aus seinem Mund. „Das war der Krieg“, so sagte er immer, wenn er sich dann mit einer Serviette sorgfältig abtupfte.
Die kleine Paula wusste das schon lange. Auch der kleine Finger, der Opa fehlte, war im Krieg geblieben. Aber Opa war ja da, das war die Hauptsache.
Ein Besuch in Bergen-Belsen
Als Paula schon etwas älter war, haben wir auf dem Rückweg von Oma und Opa die Gedenkstätte Bergen-Belsen besucht. An der Autobahn stehen Hinweisschilder. Man fährt nur 20 Minuten bis zu diesem ehemaligen Konzentrations- und Kriegsgefangenen-Lager, in dem auch Anne Frank gestorben ist. Ich wollte diesen Gedenkort schon lange einmal besuchen.
Also sind wir hineingegangen. Wir hatten schon viele Orte und Ausstellungen besucht, oft langeweilte sich unsere Tochter. Aber hier, in der Gedenkstätte Bergen-Belsen war es anders.
Lebensgroße Fotos der damaligen Inhaftierten des Lagers
Schon am Eingang sah man lebensgroße Fotoaufnahmen der damaligen Inhaftierten des Lagers. Die ausgemergelten Gestalten waren so ihren Befreiern entgegengekommen und fotografiert worden. Paula war erschrocken. Sie fragte, was mit diesen Menschen denn passiert war, und wir sagten, das war im Krieg unter den Nazis. Und dass Menschen andere Menschen so schlimm behandelt hätten. Sie ging weiter und schaute die Bilder der Dokumentation an.
„Mama, war Opa auch hier bei den Soldaten?“
Dann standen wir vor einer Ausstellungstafel mit Fotos von Soldaten in Uniformen der SA und der Wehrmacht. Paula schaute. Und dann fragte sie: „Mama, war Opa auch hier bei den Soldaten?“
Sie wusste, dass der Krieg schlimme Dinge anrichtet. Ihr Opa hatte seine Verletzungen im Gesicht und an der Hand davongetragen. Und sie wusste, dass er Soldat gewesen war. Nun stand diese große Frage im Raum. Und in ihrem jungen Gesicht: „Mama, war Opa auch bei den Soldaten?“ War er auch bei denen, die so schlimme Dinge mit anderen gemacht haben?
– Musik –
Direkt nach dem Abitur begeistert in den Krieg gezogen
Nein, hier bei diesen Soldaten war der Opa nicht gewesen. Das konnte ich meiner Tochter Paula versichern bei unserem Besuch in der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Er war als Marineoffizier an Land bei der Aufklärung eingesetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg, nach langer Krankheit und vielen Operationen war er Lehrer geworden. Er hat Französisch unterrichtet, Sport und Religion. Im Unterricht hat er seinen Schüler*innen von seiner Zeit als Soldat erzählt. Davon, wie begeistert er 1939 in den Krieg gezogen war. Direkt nach dem Abitur hatte er sich freiwillig gemeldet. Er war schon mit 21 Offizier geworden, befehligte einen eigenen Trupp Soldaten. Bis zu dem einen Einsatz.
Sein Trupp und er waren als Aufklärer unterwegs. Er war morgens als Erster aus seinem Zelt gekrochen und hatte mit dem Feldstecher die Umgebung nach Gefahren abgesucht. Da sah er das Geschützrohr eines Panzers, der sich auf dem Hügel oberhalb des kleinen Lagers postiert hatte. Und schon feuerte der Panzer. Eine einzige Granate. Volltreffer. Die Zelte wurden zerfetzt. Die Männer darin auch. Paulas Opa wurde schwer verletzt gefunden und in ein Lazarett gebracht. Niemand seines Trupps hatte überlebt. Nur er.
Sein Soldat-Sein damals war Teil einer großen Schuld
Es war vor allem dieses Erlebnis, das ihn veränderte. Es hat ihn sein ganzes weiteres Leben lang begleitet. Er war doch verantwortlich gewesen für seine Männer! So dachte er. Er hatte sie nicht schützen können. Er trug schwer an ihrem Tod. Er fühlte sich schuldig. Und mit den Jahren wurde ihm klar, dass sein Soldat-Sein damals Teil einer großen Schuld war. Nazi-Deutschland hatte sich zum Herrn über andere gemacht, hatte Jüdinnen und Juden systematisch ermordet und die Nachbarländer mit Krieg überzogen. Die Deutschen brachten über Millionen von Menschen Tod und Leid. Und er war einer der deutschen Soldaten gewesen. Das hat ihn nicht losgelassen.
Aus dem Soldaten wurde ein politisch bewusster und engagierter Lehrer. Und ein tief gläubiger Christ.
"Wie konnte ich nur glauben, für eine gute Sache in den Krieg gezogen zu sein?"
Wenn er seinen Schüler*innen von seiner Zeit als Soldat und dieser schrecklichen Erfahrung im Krieg erzählte, hat er oft gesagt: „Ich war doch auf eine Schule gegangen wie ihr. Ich hatte doch gelernt, dass es Rechte gibt und Regeln. Und ich war doch christlich erzogen worden. Ich war getauft. Und als Konfirmand habe ich die Zehn Gebote auswendig gelernt. Wie konnte ich nur glauben, für eine gute Sache in den Krieg gezogen zu sein?“
Erziehung zu Frieden und Demokratie
Als Religionslehrer machte er diese Erinnerung zum Teil der Erziehung zu Frieden und Demokratie. Und wenn damals in den siebziger und achtziger Jahren Schüler nach dem Abitur den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigerten, hat er viele bei der Anhörung und Befragung begleitet.
Sein Lebenszeugnis hat viele der Jugendlichen berührt. Mich auch. Darum denke ich heute an ihn. Heute ist Volkstrauertag. Ein Gedenktag, an dem die Flaggen vor öffentlichen Gebäuden auf Halbmast gehisst und Kränze niedergelegt werden.
Volkstrauertag - Gedenktag für die Toten aus den beiden Weltkriegen
Es wird der Toten aus den beiden Weltkriegen gedacht. Und das sind schrecklich viele. Im Ersten Weltkrieg starben mehr als neun Millionen Soldaten und zehn Millionen unbeteiligte Zivilisten. Am Ende des Zweiten Weltkriegs waren mindestens 65 Millionen Tote weltweit zu beklagen. Dazu kommen die Kriegstoten, die es seitdem gab und schrecklicherweise bis heute gibt. Eine unfassbar große Menge von Leben, an die der Volkstrauertag heute erinnert.
– Musik –
Kranzniederlegung am Kriegerdenkmal
Am Krieger-Denkmal vor der Kirche, in der ich Pfarrerin bin, werden heute am Volkstrauertag nach dem Gottesdienst drei Menschen Kränze niederlegen. Wegen der Pandemie kommen nur ganz wenige weitere Besucher*innen dazu. Ich werde dabei sein. Und ich gehe in Gedanken zurück zu den Menschen von damals. Ich stelle mir vor, wie eine Frau damals geweint hat, deren Mann im Krieg gestorben ist. Wie Kinder stumm dastanden, nachdem eine Bombe ihr Haus zerstört und die Großeltern ausgelöscht hatte. Wie eine junge Frau damals den letzten Brief ihres Liebsten klein zusammengefaltet in der Hand hielt. Er war gefallen, und sie wird ihn nie vergessen, ihre große Liebe. Und wie der Großvater meiner Tochter Paula ein Leben an den Morgen dachte, als der Panzer auf seine Einheit zielte und schoss.
In der Bibel in einem Psalm gibt es die Bitte an Gott: „Sammle meine Tränen in deinen Krug; ohne Zweifel, du zählst sie.“ (Psalm 56,9)
Viele Völker trauern
Volkstrauertag. Nicht ein Volk trauert. Viele Völker trauern. Nicht Deutsche, Polen oder Amerikaner, nicht Japaner, Franzosen oder Engländer. Nein, Menschen wie du und ich. Fast jedes europäische Land hat einen eigenen Gedenktag, um an die gefallenen Soldaten und die Toten in der Zivilbevölkerung zu erinnern.
Der Volkstrauertag wurde 1925 erstmals als Gedenktag begangen. Er hat also eine bald 100 Jahre alte Tradition. Vielleicht erscheint er uns deshalb heute nicht mehr so wichtig?
Krieg ist für uns heute weit weg
Weil Krieg uns meist nur noch in den Nachrichten begegnet, die man wegschalten, oder in der Zeitung, die man beiseitelegen kann. Oder in den Geschichtsbüchern. Weil die meisten von uns Gott sei Dank nicht mehr erleben mussten, dass ihre Liebsten irgendwo in einem sinnlosen Krieg einen brutalen Tod gestorben sind.
"Menschen, die man vergisst, sterben ein zweites Mal."
Ein jüdisches Sprichwort sagt: „Menschen, die man vergisst, sterben ein zweites Mal." Auch darum fühle ich die Verantwortung, mich zu erinnern.
Die Welt ist voller Gewalt
Für mich verknüpft sich die Erinnerung mit dem, was heute ist. Die Welt ist voller Gewalt. Es gibt so viele Kriege. Und manche Kriege werden im Namen Gottes oder des Glaubens geführt. Aber Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Jesus hat gesagt: „Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ (Matthäus 5,9)
Es ist wichtig, jungen Menschen den Gott des Friedens nahezubringen
Der Opa von Paula wurde nicht müde, als Religionslehrer jungen Menschen den Gott des Friedens nahezubringen. Auch, indem er ihnen von seinen Kriegserfahrungen und von seinem eigenen Irrweg erzählt hat. Ich wünsche mir, dass das alle Religionslehrer*innen tun: sich für den Frieden einsetzen. Und zwar Religionslehrer*innen aller Religionen. Ich versuche das heute am Denkmal vor meiner Kirche. An die Kriegstoten erinnern. Die Hoffnung auf Frieden stark machen. Mit den wenigen, die beim Gedenken vor unserer Kirche heute dabei sein können. Und vielleicht mit denen, die die Geschichte von Paulas Opa jetzt hier gehört haben.