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Lockruf des Jahres
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Lockruf des Jahres

Stefan Claaß
Ein Beitrag von Stefan Claaß, Evangelischer Pfarrer und Professor, Theologisches Seminar Herborn
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Guten Morgen! Wie schön, dass Sie schon wach sind. Allmählich wird es hell. Das Licht übernimmt den Tag und das neue Jahr. Erst vor wenigen Stunden haben viele einander gewünscht: Gutes Neues! Oder: Prost Neujahr! Prost – das ist nicht nur eine Floskel zum Anstoßen. Das ist auch ein guter Wunsch. Ausführlich heißt es ja: Pro-sit Neujahr! Das ist Lateinisch und heißt auf Deutsch: Möge es gut werden! Möge das neue Jahr dir gut bekommen.

Wie gehe ich etwas an?

Freuen Sie sich darauf? Oder starten Sie eher mit Befürchtungen? Wie ich etwas angehe, hängt ganz wesentlich davon ab, was ich erwarte. Ich denke da an einen Freund von mir, der ist Klarinettenspieler. Vor etlichen Jahren saßen wir zusammen im Schulorchester. Seine Mutter versuchte ihn immer wieder zu motivieren: Zum Spielen gehört auch das Üben. Das war eher mühsam für beide. Aber irgendwann stellte die Mutter fest, dass ihr Sohn von sich aus und ganz freiwillig mehr geübt hat.  Zuerst dachte sie, ihre pädagogischen Hinweise hätten gefruchtet. Doch dann stellte sie fest, dass es an der attraktiven Flötistin lag, die neu ins Orchester gekommen war. Der Druck von zu Hause war weit weniger erfolgreich als die neue Verlockung. Ich habe diese Erfahrung nie vergessen, weil sie etwas davon erzählt, wie mehr Farbe ins Leben kommt.

Verlockungen wirken stärker als Druck

Ich habe das auch bei mir selbst ganz oft festgestellt: Locken wirkt deutlich stärker als Druck. Sonst wäre ich vielleicht gar nicht mehr am Leben. Als Zweijähriger bin ich auf einer Baustelle auf eine ungesicherte Kante zu gerannt. Meine Mutter schrie mir zu und warnte mich. Meine Oma griff kurzerhand zur Keksdose und rief: „Schau mal, willst du einen Keks?“ Sofort machte ich kehrt. Als ich die Geschichte später hörte, war ich sicher, dass meine Oma dabei eine göttliche Eingebung hatte: Kekse sind erfolgreicher als Warnrufe.

Deshalb frage ich mich am Neujahrstag erst einmal, was mich ins neue Jahr lockt. Gar nicht so einfach, weil die Krisen und Befürchtungen in den Nachrichten und Magazinen so präsent sind. Viel Stoff zum Fürchten also. Weniges, was lockt. Andererseits kommen wir gerade von Weihnachten her. Und die Weihnachts-Botschaft heißt: Gott ist in der Welt unterwegs. Nicht fernab in himmlischen Sphären, sondern mitten unter uns, in allem, was uns beschäftigt. Ich finde: Der Neujahrsmorgen ist ein guter Moment zu überlegen, wie das konkret aussehen könnte.

Was erwarte ich vom neuen Jahr?

Wie wir ins neue Jahr hineingehen, hängt wesentlich davon ab, was wir erwarten. Was fällt mir zuerst ein: das, worauf ich mich freue, was ich hoffe? Oder das, was ich befürchte? Die Zeitschriften sind zum Jahreswechsel voll von Prophezeiungen im Sinne von Vorhersagen, was kommt. In der jüdischen Tradition gab es vor über 2000 Jahren eine ganze Reihe von Propheten. Ihnen ging es aber nicht nur darum, irgendetwas vorherzusagen. Sondern sie haben ganz häufig etwas hervor-gesagt. Sie haben ausgesprochen, was ist und was daraus folgt, wenn die Leute nichts ändern. Sie haben Konsequenzen des Lebens aufgedeckt. Wie in unseren Tagen zum Beispiel Klimaforscherinnen und –forscher das tun: Wenn ihr so weiterlebt wie bisher, dann wird das Folgen haben.

Die Propheten in der Bibel

Aber die jüdischen Propheten in der Bibel hatten nicht nur Warnungen im Gepäck. Sie entwarfen auch positive Gegenbilder, die Mut zu einem anderen Leben machen. Ihre Ermutigung hieß: Die Lage muss nicht so bleiben, wie sie ist. Alternativen sind immer möglich. Selbst wenn etwas alternativlos aussieht, gibt es mit Gottes Hilfe vielleicht doch einen anderen Weg. Gegenbilder als Verlockung.

Ich denke zum Beispiel an ein Bild des Propheten Jesaja:
„Gott wird für alle Völker ein Festmahl geben mit feinsten Speisen und besten Weinen. Gott wird den Trauerflor zerreißen, der allen Völkern das Gesicht verhüllt; er wird das Leichentuch entfernen, das über den Nationen liegt. Auf Gott hatten wir unsere Hoffnung gesetzt und er hat uns die Rettung gebracht; wir haben nicht vergeblich gehofft.“ (Jesaja 25, 6.7.9 Übersetzung: gute Nachricht)

Dieses saftige Bild von einem Festmahl erzählt der biblische Prophet Jesaja Menschen, die den täglichen Hunger kannten. Ihnen verspricht er köstliche Speisen und gute Weine. Ländern, die unter Krieg leiden oder in Not geraten sind, verspricht er ein Ende der Trauer, neue Lebensfreude. Die Zeit wird kommen. So macht der Prophet den Menschen Mut: Haltet durch! Ja, ihr erlebt eine schwere Zeit. Aber gebt die Hoffnung nicht auf! Und gebt Gott nicht auf! Eine andere Zeit wird kommen.

Desmond Tutu - Ein Mutmacher für Südafrika

Auf ähnliche Weise Mut gemacht hat fast 3000 Jahre später Desmond Tutu in Südafrika. Das Land war tief verwundet von rassistischer Unterdrückung und von gegenseitigem Hass. Doch nun war das Regime der Apartheit beendet. Die Menschen hatten die Chance, neu zusammenzufinden – Schwarze und Weiße, Reiche und Arme. Würden sie es schaffen – oder immer weiter ihre Wunden offen halten und damit den Hass? In dieser Situation hat Bischof Desmond Tutu davon gepredigt, dass Schwarze und Weiße miteinander wohnen werden. Tutu sagte: „Wir erleben die Geburtsstunde eines freien Südafrika, wo wir alle, Schwarze und Weiße gemeinsam, Hand in Hand schreiten. Wir danken und loben Gott.“ (zit nach Johann Cilliers in: Erlebnis Predigt, 2014, S. 134)

Tutu sagt nicht: Wir werden Hand in Hand schreiten. Er sagt es in der Gegenwart: Wir schreiten – schon jetzt. Er erzählt, was er hofft, schon als Gegenwart. Weil Gott jetzt schon Menschen motiviert.

Das war 1994, gerade mal fünf Jahre nach dem Mauerfall. Damals hatte ich wie viele andere das Gefühl: Mensch, die Welt ändert sich wirklich zum Guten. In Europa ist der Eiserne Vorhang verschwunden. Südafrika überwindet die Apartheid. Dinge geschehen, die ich lange nicht für möglich gehalten habe. Eine neue, bessere Zeit ist angebrochen.

Die Anekdote vom Flaschengeist

Damals bin ich folgender Anekdote begegnet. Ein Mann erzählt seinen Freunden: Ich habe doch tatsächlich einen Flaschengeist getroffen. So einen, der aus Dankbarkeit drei Wünsche erfüllt. Und was hast du dir gewünscht?, wollen seine Freunde wissen. Naja, antwortet der Mann. Als erstes habe ich mir den Fall der Mauer gewünscht. Als zweites das Ende der Apartheid. Und jetzt ringe ich seit Jahren damit, was ich mir als drittes wünschen soll. Wenn der Mann heute mich fragen würde, mir würden gleich mehrere Sachen einfallen. Den Klimawandel stoppen. Frieden im Nahen Osten. Ende des Extremismus jeder Couleur. Aber es ist eben nur eine Anekdote. Trotzdem habe ich einen Wunsch für das neue Jahr.  

Hoffnungsgeschichten für eine bessere Welt

Es gibt den Flaschengeist nicht, der mit einem Fingerschnipp drei Wünsche für das neue Jahr erfüllt. Trotzdem wünsche ich mir was. Ich wünsche mir, dass mir und allen anderen die Hoffnungsgeschichten nicht ausgehen. Geschichten, die einen bewegen und die eine Zukunft zeigen, von der man sagen kann: Ja, da will ich hin. Da wollen wir hin. Nicht als Luftschlösser, sondern als Verlockungen. Der Unterschied besteht darin: Die Verlockungen sind nicht einfach ausgedacht und sie vertrösten auch nicht einfach auf eine ferne Zukunft. Sondern sie haben schon jetzt, in der Gegenwart einen realen Anhaltspunkt. Bei dem Ende der Apartheid und bei dem Fall der Mauer war es auch so: Sie wären nicht möglich gewesen ohne Menschen mit positiven Bildern von einer anderen Zukunft. Das Gleiche erhoffe ich mir auch für 2020: Verlockungen zu einer besseren Welt.

Mit Veränderungen und Gottvertrauen ins neue Jahr

Von Weihnachten her heißt die Nachricht der Bibel: Gott hält sich nicht aus unserem Leben heraus, sondern Gott ist mit uns unterwegs. Ich hoffe, dass er hilft zu sortieren, was zum Leben dient und was man nicht braucht. Was ich ganz sicher nicht brauche, ist Verachtung für andere Menschen und Hassreden. Dem Leben dienlich ist dagegen Respekt und konstruktive Kritik. Die kann ich brauchen, die machen Mut, die bringen neue Ideen und Farbe in mein Leben. Ich brauche Menschen, die wie Propheten sind, die also sagen, was ist und was passiert, wenn wir nichts ändern. Die aber auch positive Bilder dafür haben, wie gut es werden kann, wenn wir mit Gottvertrauen etwas dafür tun. Ich wünsche Ihnen und mir, dass wir in einem Jahr sagen können: Wir haben nicht vergeblich gehofft. In diesem Sinne: 2020 möge gut werden -  Prosit Neujahr!

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