Auf Augenhöhe - Gedanken zum Muttertag
Vor mehr als 50 Jahren kam Heintjes „Mama“-Lied in die Plattenläden und wurde in Deutschland 1968 die meistverkaufte Single des Jahres. Heintjes holländischer Produzent, der origineller Weise auch noch den Namen Kleijngeld trug, verdiente sich eine goldene Nase. Mutter und Gefühl, das geht eben immer, auch heute noch. Aber es ist weniger als die halbe Wahrheit.
Bis heute sind Frauen und besonders Mütter in unserem Land im Zweifel deutlich schlechter dran als Männer. Und wenn Mütter allein erziehend sind, wird es oft besonders schlimm. Bis heute gibt es für nicht berufstätige Mütter keine Renten- und keine Krankenversicherung, keine Gewerkschaft, keine Lobby, egal, was sie leisten. Und wenn man den offiziellen Berechnungen glauben darf, verdienen berufstätige Frauen im Schnitt 20 Prozent weniger als Männer. Die Bundesregierung möchte diesen Unterschied bis 2020 auf 10 Prozent senken. Wir werden sehen. Die Mehrzahl der mächtigen Positionen in unserem Land ist immer noch von Männern besetzt. Und nach wie vor sind Kinder ein erhebliches berufliches Risiko für Mütter, erst recht, wenn sie Karriere machen wollen. Für Väter gilt das eher nicht.
Warum erzähle ich Ihnen das heute, am Muttertag, und das in einer evangelischen Morgenfeier? Ich möchte Sie einladen, mit mir der uralten Menschheits-Frage nach den Frauen und Müttern nachzugehen. Dazu brauchen wir mehr als einen musikalischen Ohrwurm oder Blumensträuße und Schokolade. Wir müssen tief graben und weit zurück gehen, weit in die Geschichte des jüdischen und des christlichen Glaubens. Buchstäblich bis zu Adam und Eva, und genau genommen noch viel, viel weiter.
Musik: Frederick Delius, Idylle de Printemps (Englich Northern Philharmonia unter David Lioyd-Jones)
Ganz am Anfang der Bibel, in den ersten Kapiteln des Ersten Buches Mose, stehen Texte, die in gewaltigen Bildern von der Erschaffung der Welt und allen Lebens erzählen. Niedergeschrieben wurden sie von verschiedenen Autoren zu unterschiedlichen Zeiten. Diese Texte sind keine Reportagen im modernen Sinn, erst recht keine naturwissenschaftlichen Berichte, sondern Versuche aus verschiedenen Zeiten jüdischer Geschichte, in einem langen, bilderreichen Zyklus diese merkwürdige Welt zu verstehen und zu deuten.
Die Erschaffung des Menschen als Frau und Mann wird dabei gleich zwei Mal erzählt, und zwar sehr unterschiedlich. Die berühmteste und bei manchen Männern natürlich beliebteste Geschichte steht im ersten Buch Mose im zweiten Kapitel:
Gott der HERR hatte noch nicht regnen lassen auf Erden, und kein Mensch war da, der das Land bebaute; aber ein Strom stieg aus der Erde empor und tränkte das ganze Land. Da machte Gott der HERR den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. …
Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte. …
Und Gott der HERR sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht. Da ließ Gott der HERR einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. …
Und Gott der HERR baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. Da sprach der Mensch: Die ist nun Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist. (Auszug aus 1. Mose 2)
Keine Frage, so hatte MANN das sehr lange und immer noch oft auch gerne: Der Mann war zuerst da. Die Frau war eine Art Anhängsel, auf merkwürdige Weise entstanden, als der Mann sich gerade nicht wehren konnte. Ein besseres Rippchen, wenn Sie mir den uralten Kalauer gestatten. „Männin“, hat Martin Luther seinerzeit versucht, das hebräische Wortspiel nachzuahmen. „Isch“ heißt hebräisch der Mann und „Ischa“ die Frau. Im Hebräischen ist die Botschaft: Die beiden gehören zusammen. Der eine Teil des Lebens kann ohne den anderen nicht sein. Aber im Deutschen funktioniert das sprachlich einfach nicht. „Männin“, das klingt fatal nach „Männchen“. Irgendwie eine Nummer kleiner: Die Damen mögen doch bitte Männchen machen. Der Mann sagt, die Frau gehorcht. Und alle haben das Gefühl: So war es doch schon immer.
Was ist da passiert? Jeder Mensch verdankt sein Leben natürlich Mutter und Vater. Aber nur Mütter können Kinder tatsächlich auf die Welt bringen. Sie kann etwas vollbringen, wozu kein Mann je imstande wäre. Eine Geburt tut sehr, sehr weh, das ist kein Spaß. So viel weiß ich als Mann immerhin auch. Aber am Ende steht ein wunderbares, kleines, neues Leben, das für Jahre unendlich viel Fürsorge braucht. Und in den meisten Fällen ist es eben immer noch die Mutter, die die größte Last der ersten, anstrengenden Lebensjahre der Kinder zu tragen hat.
Denn von einem Tag auf den anderen stellt eine Geburt das Leben einer Mutter auf den Kopf. Das junge Leben fordert energisch sein Recht, und zwar rund um die Uhr und ohne Rücksicht auf die Kräfte der Mutter. Ein bisschen Kind, das geht nicht. Rücksicht und soziales Verhalten lernt der Mensch erst viel, viel später – wenn überhaupt. Was im Nachhinein oder von außen aussieht, als seien es nur herrliche Zeiten mit einem süßen kleinen Baby, ist oft genug Stress bis zum Anschlag, wenn man drin steckt.
Zwar sind inzwischen auch viele Väter bereit, ihren fairen Anteil an der kräftezehrenden Alltags-Versorgung der Kinder auf sich zu nehmen. Das ist wunderbar und aller Ehren wert, aber immer noch nehmen viel mehr Frauen im Beruf eine Elternzeit in Anspruch als Männer. Das hat natürlich auch mit den Arbeitgebern zu tun, aber am Ende ist es im Zweifel doch die Mutter, die sich in der Pflicht fühlt. Denn sie hat das Kind geboren. Und diese tiefe Beziehung bleibt oft ein Leben lang. Sterbeforscher berichten, dass viele Menschen am Ende ihres Lebens noch einmal nach ihrer Mutter rufen.
Musik: Giovanni Battista Pergolesi, Stabat mater (Akademie für alte Musik Berlin)
Niemand kann sagen, wann und unter welchen Umständen die bis heute andauernde Vorherrschaft der Männer begann. Ab wann man sich Gott und damit die Macht über das Leben fast ausschließlich männlich vorstellte. Denn in grauer Vorzeit war es einmal anders. Irgendwann vor vielen Jahrtausenden war da viel mehr. In allen Teilen der Welt gab es Völker und Kulturen, für die Gott eine Mutter war. Archäologen haben sie ausgegraben: die kleinen und großen rundlichen Statuen einer Leben schenkenden Ur-Mutter mit breitem Becken und nährenden Brüsten. Es waren Kulturen, die etwas davon wußten, dass ohne Fruchtbarkeit jedes Leben versiegt. Bis in griechische und römische Zeit hat sich auch in Europa die Erinnerung daran erhalten, in der griechischen Göttin Demeter oder der römischen Ceres. Und unbewusst ist in der deutschen Sprache sogar das uralte germanische Wissen von der Erhaltung es Lebens bis heute geblieben, wenn wir von Muttererde sprechen.
Aber in den berühmten zehn Geboten ist der Mensch natürlich ein Mann, seine Frau zählt zum Besitzstand wie Knechte, Mägde, Vieh und Sonstiges. Unerschütterlich scheint das, geradezu in Stein gemeißelt wie die Tafeln, die Moses vom Berg Sinai herunter getragen haben soll. Ich fürchte, den Ruf der Frauen hat Eva verdorben – jene Frau am Anfang der Bibel, die auf den Rat der Schlange dem guten Adam die böse Frucht reichte. Aber die theologische Forschung weiß schon lange: Männer haben diese Version der biblischen Geschichte von Adam und Eva erdacht, um ihre eigene Herrschaft zu begründen. Bewusst oder unbewusst haben sie den Frauen die Schuld am Bösen in der Welt in die Schuhe geschoben. Denn wer sich schuldig fühlt, wird nicht aufbegehren. Das hat lang ja auch bestens funktioniert. Und wie oft im Leben brauchte es für eine andere, neue Sicht der Dinge eine politische Katastrophe. Die kam für das jüdische Volk im sechsten Jahrhundert vor Christus.
Da waren die glorreichen Zeiten der großen Männer Israels wie Saul und David und Salomo lange vorbei. Das Land der Israeliten war in zwei Reiche zerfallen: Israel im Norden und Juda im Süden. Das größere Israel im Norden wurde um 720 vor Christus von den Assyrern erobert, zu einem Vasallenstaat gemacht und ausgeplündert. Für Juda, übrigens nicht viel größer als Südhessen, war Schluss, als 597 vor Christus die Babylonier das Land eroberten. Große Teile der Bevölkerung, vor allem die Oberschicht, mussten die alte Heimat verlassen. In langen Trecks zogen ungezählte Tausende ostwärts durch die Wüste ins Land ihrer Eroberer, nach Babylon, heute der Irak. Jahrzehnte lang mussten sie dort bleiben, entwurzelt, heimatlos. Die alten Ordnungen galten nicht mehr. In der Not der Verbannung waren alle gleich.
In dieser Zeit scheint es bei den Theologen und Priestern der heimatlos gewordenen Menschen aus Juda ein neues Nachdenken über die Grundlagen ihres Glaubens an den Gott ihrer Väter und Mütter gegeben zu haben. Und sie erschufen einen ganz anderen, weisen Text über den Anfang der Welt und die Erschaffung des Menschen. Zu Recht steht dieser Text ganz am Anfang der Bibel, im ersten Kapitel des ersten Mosebuches. Merkwürdig nur: Dieser kluge Text ist weniger bekannt, als die uralte Geschichte von der Rippe.
Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann – und Frau. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht. … Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut. ( Auszug aus 1. Mose 1)
Musik: Ernest Bloch, Printemps (Atlas camerata Orchestra, Dalia Atlas)
Das Geheimnis der neuen Schöpfungsgeschichte liegt in einem einzigen kleinen Wort: Und. Mann und Frau. Gott schuf den Menschen als Mann und Frau, und es war sehr gut. Die alte, männliche Herrschaftsordnung funktionierte in der Not des Exils offenbar nicht mehr. Und so ließ sich zum Verhältnis von Frauen und Männern etwas ganz Neues denken: Mann und Frau als gemeinsame Geschöpfe des einen Gottes. Gleichwertig. Auf Augenhöhe.
Und so erzählten viele Geschichten in der Bibel auch von sehr starken Frauen. Etwa von Sarah, der klugen Frau Abrahams oder von Miriam, der Schwester des Moses, die beim Auszug aus Ägypten als Anführerin eine wichtige Rolle spielte oder von Esther, die im Perserreich einen Massenmord an den Juden verhinderte. Immer waren es Geschichten, in denen Frauen Klugheit und eine große seelische Stärke bewiesen, Durchhaltevermögen zeigten, mit außergewöhnlichen Situationen fertig wurden. Wenn man genau hinschaut, klassische Rollen auch aller Mütter.
Leider gewann die alte, die männerdominierte, die patriarchale Sicht der Welt in der jüdischen wie der christlichen Tradition bald wieder die Oberhand. Jesus hatte mit Sicherheit nicht nur Jünger, sondern auch Jüngerinnen, und später gab es nicht nur Apostel, sondern auch Apostelinnen.
Aber die Männer setzten sich doch wieder durch, vor allem mit dem Argument, Jesus sei schließlich ein Mann gewesen und Gottvater natürlich auch. Für zwei Jahrtausende zementierten sie im christlichen Kulturkreis die Herrschaft der Männer. Ein besonders unrühmliches Beispiel stellt jene Stelle im ersten Korintherbrief dar, wo Paulus von den Frauen allen Ernstes verlangt haben soll, sie hätten in der Gemeindeversammlung den Mund zu halten. (1. Korinther 14, 33b-36) Sehr wahrscheinlich stammt der Satz gar nicht von ihm, aber er wurde ihm zugeschrieben, und er entfaltete eine lange und unheilvolle Wirkung. Und die Männer schafften es auch relativ rasch, Berichte über die wichtigen Frauen an der Seite Jesu weitgehend aus der christlichen Überlieferung verschwinden zu lassen. Erst langsam, Stück für Stück, deckt jüngste theologische Forschung diese verschütteten Spuren wieder auf.
Heute ist Muttertag. Dabei ist interessanterweise immer nur von einer Mutter die Rede, jeweils der eigenen. Der Muttertag ist kein Gemeinschaftserlebnis, er ist ein Einzelfall. Einmal im Jahr und einzeln für jede Mutter, so richtig schön privat. Aber die Frage nach der Rolle der Frauen und Mütter in unserer Gesellschaft ist noch lange nicht erledigt, und eigentlich könnten und müssten die Christen dazu wichtige Beiträge leisten. Schließlich gehört es zu den Grundlagen ihres Glaubens, dass vor Gott alle Menschen gleich sind. Nicht ganz einfach, das umzusetzen, wo noch nicht einmal alle Kirchen den Frauen alle Rechte zugestehen.
Vielleicht sollte man den Tag ja einfach umbenennen: Müttertag. Und ihn nicht als Tag der eilig gekauften Verlegenheits-Präsente oder Essens-Einladungen zu begehen, sondern auch mit einem nachdenklichen Gespräch von Frauen und Männern über die Erfahrungen der Mütter und eine größere Gerechtigkeit in der Zukunft.
Musik: Carl Reinecke, Konzert für Harfe und Orchester Op. 182 (Swedish Chamber Orchestra)