Der kleine Rest Mehl
Heute ist der erste Ferientag in Hessen. Viele Menschen brechen in den Urlaub auf. Ich habe eine Geschichte gefunden die dazu passt und die mir ein wertvoller Begleiter ist. Der argentinische Psychotherapeut und Autor Jorge Bucay erzählt sie in seinem Buch „Der innere Kompass“: Früher, so schreibt er, wurde in Argentinien das Mehl in großen 25-Kilo-Säcken aus Jute gekauft. Wenn so ein Sack leer war, machten sich die Kinder ein Spiel daraus, diesen Sack vollständig zu leeren. Sie schütteten vorsichtig das restliche Mehl in ein Glas und schüttelten dann den Sack, bis kein Mehl mehr darin war.
Und Bucay erzählt: „Aber der Stoff, aus dem diese Säcke gemacht waren, verlieh dem Ganzen einen besonderen Reiz. Ganz egal, wie oft und wie heftig meine Cousins und ich den leeren Sack schüttelten, es blieb immer ein bisschen Mehl in dem groben Stoff hängen: Ihn leer zu bekommen war eine echte Herausforderung. …Und wenn wir sicher waren, dass mit dem letzten Schütteln alles erledigt war, rieselte erneut eine weiße Staubschicht auf unsere Füße, sobald wir ihn noch einmal ausschüttelten.“
Der Gedanke von Bucay kann mich in meinen Urlaub begleiten: Wenn ich in den Urlaub aufbreche, dann kann ich mir Mühe geben, den Alltag und seine Themen zuhause zu lassen: die Arbeit, den täglichen Kleinkram und sogar mein ganzes Alltags-Ich. Dann könnte ich mich ganz leer und aufnahmebereit auf den Weg machen. Aber mir gelingt das nicht. Ich nehme, mit dem Bild aus der Anekdote von Jorge Bucay gesprochen, immer ein bisschen von dem alten Mehl mit. Der Mehlsack ist nie ganz und gar leer. Erst nach einigen Tagen beginnt das Gefühl, dass ich jetzt wirklich die Alltagsspuren abgeschüttelt habe. Und dann: Ein paar Gedanken über die Arbeit oder was auch immer haben sich noch in den kleinen Falten und Nähten versteckt und rieseln noch heraus.
Und so ist es auch bei allen Aufbrüchen zu Neuem: Ich habe immer ein wenig vom Vergangenen dabei, auch wenn ich gut aufgeräumt und den Mehlsack gut ausgeschüttelt habe. Wenn ich im Urlaub bin, dann gelingt es mir meistens ganz gut, das mit einem Lächeln zu sehen: Die allerletzten Spuren meines Alltags-Ichs muss ich ja gar nicht loswerden, diese kleinen Reste meines alltäglichen Lebens, die vielleicht auch einen liebenswerten Teil meines Charakters ausmachen.
Zitat: Jorge Bucay, Der innere Kompass. Wege der Spiritualität, Frankfurt: S. Fischer Verlag 2013, S. 72.