Genügsamkeit
"Ich wünsche Dir viel Glück im neuen Lebensjahr und Genügsamkeit“, hat mir eine Freundin zum Geburtstag geschrieben. Was für ein Wunsch!? Genügsamkeit. Auf den ersten Blick konnte ich damit nichts anfangen. „Bleib immer schön genügsam!“ Das riecht für mich nach erhobenem Zeigefinger, nach einem Mauseloch, in das sich die kleine Maus still verziehen soll, statt lustig herumzutanzen. Nein. Ich will nicht genügsam sein. Ich will Glück und Lebendigkeit. Das volle Leben und nicht nur einen Teil davon.
Warum wünscht sie mir das, habe ich mich gefragt. Ist das nicht eher etwas, mit dem man sich abfinden muss? Wenn das Leben nicht rund läuft, dann muss man notgedrungen genügsam sein. Sich mit dem zufrieden geben, was ist. Aber als Wunsch zum Geburtstag? Merkwürdig.
Inzwischen kenne ich mich ganz gut aus mit Genügsamkeit. Ausgebremst auf voller Fahrt. Durch einen Unfall eingeschränkt in den eigenen Möglichkeiten. In solchen Situationen freut man sich an kleinen Erfolgen. Lernt, die Latte niedriger zu setzen, eigene Ziele bescheidener zu stecken.
Ich erzähle der Freundin, wie sehr ich ihr „Ich wünsche dir Genügsamkeit“ inzwischen gebrauchen kann. Aber ich erfahre: So hat sie das gar nicht gemeint. Genügsam sein, weil man dazu gezwungen wird. Nein, das hat sie mir nicht gewünscht. Sondern ihre Erfahrung ist: Man nimmt sich oft zu viel vor. Meint, es reicht nicht, was man macht oder vorhat. Immer noch eins draufsetzen. Wenn das eine geschafft ist, kommt das nächste. Ohne Zeit, sich zu freuen über das, was man erreicht hat. Ohne Raum, wirklich auszuspannen. Darauf werden wir ausgerichtet in unserer Gesellschaft. Durch die Werbung, durch das, was die Wirtschaft erwartet: Es ist nie genug. Immer mehr. Mehr kaufen, mehr arbeiten, mehr erleben.
Was sie mir dagegen wünscht: Zu merken, wann es genug ist. Lieber etwas intensiv erleben, als ein Erlebnis an das andere reihen. Volles Leben nicht durch überfüllte Terminkalender, sondern durch intensive Erfahrungen. Genügsamkeit in dem Sinne, dass ich das richtige Maß finde. Das kann ich nachvollziehen. Es gibt ein gutes „Genug“. Ich habe genug. Es genügt mir, es reicht, das ist ein gutes Gefühl. Ein Ausdruck nicht von Verzicht, sondern von Zufriedenheit.
So hat es wohl auch Jesus gemeint, als er sagte: „Ich bin gekommen, dass sie das Leben und volle Genüge haben“ (Johannes 10,10) Das volle Leben und Genügsamkeit sind für ihn kein Widerspruch, sondern beides gehört zusammen. Dieses Genug kann in der großen Fülle liegen und genauso in den kleinen Dingen, über die ich mich freue – oder über die ich mich zu freuen lerne.