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Friedrich oder der lange Weg der Erkenntnis
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Friedrich oder der lange Weg der Erkenntnis

Michael Becker
Ein Beitrag von Michael Becker, Evangelischer Pfarrer, Kassel

Mein Freund Friedrich hat jetzt eine Erkenntnis, sagt er mir. Wie ein Blitz habe ihn das getroffen im Herbst, kurz nach dem Erntedankfest. Na ja, das sagt man immer so: wie ein Blitz. In Wahrheit und wenn man etwas länger nachdenkt, sagt Friedrich, gibt es immer einen langen Weg bis zu einer neuen Erkenntnis. Auch bei ihm war der Weg eher länger. Aber die Erkenntnis ist trotzdem schön wie ein Sonnenstrahl, der plötzlich aus dunklen Wolken hervorleuchtet. Man hält dann sein Gesicht in die Sonne und spürt: Endlich Sonne! Es kann nur besser werden. Endlich weiß ich etwas, was mein Leben leichter macht. Das mit der Erkenntnis kam bei Friedrich so.

Friedrich war immer ein bisschen muffelig - und hat eigentlich gar keinen Grund dazu. Er hat einen schönen Beruf, ist verheiratet und hat drei Kinder, die jetzt schon größer sind. Nur eine wohnt noch Zuhause. Seine Frau arbeitet halbtags, das Einkommen stimmt also. Wenn da nicht seine beiden Brüder wären, die immer Fritz zu ihm sagen statt Friedrich. Das stört ihn. Doch ihn stört noch viel mehr. Die drei Brüder haben eigentlich immer Streit. So lange sie denken können. Genau weiß keiner, wann das angefangen hat, aber alle wissen, wann es so richtig schlimm wurde. Nämlich nach dem Tod des Vaters, als die Erbschaft beginnt. Der Vater hatte Geld und nichts geregelt. Die Geschwister schaffen es auch nicht. Jeder fühlt sich im Nachteil, jahrelang. Und immer das Gefühl, dass jeder nur für sich das Beste will und die anderen dabei über den Tisch zieht. Das nagt an Friedrich. Jeder will sein eigenes Bestes, den anderen wird scheinbar nichts gegönnt, viele Monate. Bis eines Tages...

Bis eines schweren Tages sein jüngster Bruder anruft und Friedrich weinend um Hilfe bittet. Friedrich ist so verblüfft, dass ihm nichts mehr einfällt am Telefon.

Noch nicht mal das übliche: „Nein, dir helfe ich nicht.“ Gar nichts fällt ihm ein. Nur seine Frau sagt zu ihm: „Aber er ist doch dein Bruder!“

Friedrich sagt tagelang nichts mehr, muffelt nur vor sich hin. Er kann es einfach nicht fassen, dass der Bruder ausgerechnet ihn um Hilfe bittet. Schließlich, nach einer langen Woche, hilft er ihm tatsächlich. Eigentlich hilft er nur, weil ihm nichts anderes mehr einfällt. Und, so seltsam das klingt: Das gefällt ihm irgendwie, wenn er darüber nachdenkt. So fängt es an mit der Erkenntnis.

Ja, so fängt es damals an mit Friedrich und der Erkenntnis. Er hilft seinem Bruder, weil er so verblüfft ist, dass ihm einfach nichts anderes mehr einfällt als zu helfen. Und auf einmal gefällt ihm das auch noch. Es gefällt ihm, dem gefallenen Bruder zu helfen. Er spürt nämlich: Es tut mir gut zu helfen. Es tut mir gut, gut zu sein. Ich streichele meine eigene Seele, sozusagen. Bisher hat er immer gedacht: Wenn ich helfe, dann helfe ich den anderen. Aber das ist gar nicht so, erkennt Friedrich jetzt. Wenn ich helfe, helfe ich zuerst mir selber. Ich fühle mich gut. Ich tue mir gut.

Es wird ihm heute noch warm ums Herz, wenn er daran denkt. Wie seltsam der Anruf des Bruders war, seine Tränen. Der war immer so stark, und jetzt weint er vor mir am Telefon. Vor mir, Friedrich, den er doch angeblich nicht leiden kann. Mich bittet er. Leicht war das nicht für den, denkt Friedrich. Und kann dann auch nicht mehr „Nein!“ sagen wie sonst immer. Hilft einfach; mit Geld und gutem Rat. Dreimal ruft Friedrich seinen Bruder sogar noch an, gibt ihm ein paar Tipps. Und fühlt sich jedesmal besser. Wenn ich helfe, merkt Friedrich, helfe ich zuerst mir. Das wusste er bisher nicht. Aber jetzt weiß er es. Dabei strahlt er, innerlich. Und während er noch vor sich hin strahlt, fällt ihm ein: Da war doch mal so ein Spruch... Etwas mit gut sein... Wie hieß der denn nur...

Friedrich sucht jetzt überall diesen Spruch. Im Bücherregal, in seinen Terminkalendern; er fragt seine Frau und seine Kinder. Niemand weiß etwas, niemand findet etwas. Bis seine Frau nach ein paar Tagen sagt: „Such‘ doch mal in deiner Mappe mit den persönlichen Sachen, die liegt ganz hinten im Schrank.“

Genau da findet Friedrich den Spruch, den er gesucht hat. Mit der Hand schön geschrieben auf dem Konfirmationsschein. Da steht über seinem Namen: Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.* Römerbrief, steht unter dem Spruch. Also wohl Bibel, denkt Friedrich. Wie der Satz plötzlich passt, wundert er sich. Wie für mich geschrieben. Und das fast vierzig Jahre nach der Konfirmation. Immerhin dämmerte ihm ja noch ‘was. Er sieht sich vor dem Altar knien bei seiner Konfirmation. Der Pfarrer legt seine Hände auf ihn und segnet ihn. Friedrich hatte Gänsehaut und weiche Knie. Mehr vom Knien als vom Segen. Als er den Satz jetzt wieder liest, hat er auch ein bisschen Gänsehaut. Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. Er denkt an seine Brüder, an all die Streits und Vorwürfe. Ein bisschen schämt er sich jetzt, innen drin, ganz still für sich.

Wenn man das doch immer schaffen könnte, sagt er sich, das mit dem Gutsein. Er glaubt nicht, dass er das immer schaffen kann. Erkannt aber hat er: Gut sein hilft, sich weniger zu schämen.

 

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