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Jahreslosung 2011
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Jahreslosung 2011

Dr. Joachim Schmidt
Ein Beitrag von Dr. Joachim Schmidt, Evangelischer Pfarrer, Darmstadt

Autor und Sprecher Dr. Joachim Schmidt • Musik-Redaktion: Burkhard Jungcurt

Musik

Ein gutes Neues Jahr wünsche ich Ihnen, auch wenn es gestern schon begonnen hat. Wie wird es weiter gehen mit der Welt im Neuen Jahr? Werden die guten Wünsche vom Silvesterabend irgendetwas ändern? Schreibt sich alles weiter fort, nach den alten und brutalen Regeln? Werden die Schreckens-Szenarien vielleicht sogar zunehmen? An Weltbedrohungs-Szenarien von Klimakatastrophe bis Internationaler Terrorismus gab es im vergangenen Jahr wahrlich keinen Mangel und es steht kaum zu erwarten, dass die Kette abreißt.

Und doch hat für viele Menschen das Neue Jahr mit guten Vorsätzen begonnen, und die Liste ist lang wie in jedem Jahr: Endlich Dinge anders und besser machen als bisher: Gesünder leben, sich mehr Zeit nehmen, freundlicher zu den Mitmenschen sein, geduldiger werden. Zugleich aber gibt es da die Erinnerung, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis einen der Alltag wieder eingeholt hat, dass im Großen wie im Kleinen die Welt weiter geht wie bisher.

In der Evangelischen Kirche ist es seit langem üblich, jedes Jahr, wie übrigens auch jeden Monat, jede Woche und jeden Tag unter ein Wort der Bibel, eine Losung, zu stellen. Begonnen hat das alles vor fast 300 Jahren mit einem verarmten Adligen aus der Lausitz: Nikolaus Ludwig Graf Zinzendorf. Er war ein frommer Mann und entwickelte den Gedanken, den Mitgliedern seiner Gemeinde einzelne kurze Texte aus der Bibel für jeden Tag des Jahres zum Nachdenken und Meditieren anzubieten. Er nannte diese Texte „Losungen“, so wie zu seiner Zeit Militärs im Krieg täglich Losungen an ihre Truppen auszugeben pflegten.

Das war ein Satz, manchmal auch nur wenige Worte. In unübersichtlichem Gelände oder bei Dunkelheit war es eine Hilfe, wenn man auf Unbekannte traf. Wer die Losung kannte, war ein Freund oder Verbündeter, wer sie nicht kannte, war ein Fremder, vielleicht eine Gefahr. Die gemeinsame Kenntnis der Losung aus der Bibel sollte der Gemeinde zeigen: Wir gehören zusammen.

Die Jahreslosung für das Jahr 2011 steht im zwölften Kapitel des Briefes des Apostels Paulus an die Christen in Rom und lautet:

Zitator: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“

Musik

„Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Der Apostel Paulus schrieb den Römerbrief in unruhigen Zeiten, wahrscheinlich um 56 nach Christus. Er war gerade in Korinth, einer uralten griechischen Hafenstadt. Das alte Korinth war von den Römern im Krieg dem Erdboden gleich gemacht und später neu als römische Bürgerkolonie neu aufgebaut worden. Viele Veteranen, ausgediente Soldaten und ausgemachte Haudegen des römischen Heeres lebten hier: Wahrscheinlich gab es auch nicht wenige davon in der ersten christlichen Gemeinde.

Was Paulus den Christen in Rom ins Stammbuch schrieb, wird er auch in der Gemeinde in Korinth gepredigt haben. Und seine Zuhörer wussten, wovon er sprach. Denn die vorherrschende Logik von Militärs ist ja zu allen Zeiten recht einfach gewesen: Man will siegen, wer sich nicht freiwillig unterordnet, wird mit Gewalt bezwungen, und Böses wird mit noch mehr Bösem vergolten.

Paulus war solch machtpolitisches Denken vertraut, auch aus seiner alten Heimat. In der römischen Provinz Judäa, dem besetzten Land seiner Väter, nahmen die Spannungen seit Jahren zu. Ein Kreislauf der Gewalt zwischen Machthabern und Besiegten, wie er sich seit Menschengedenken bis heute immer und immer wieder vollzieht: Immer brutaler wurde der Partisanenkrieg, den die radikale jüdische Gruppe der Zeloten gegen die römische Besatzungsmacht in Judäa führte.

Die Zeloten erwarteten den verheißenen Messias, den göttlichen Erlöser Israels von aller Fremdherrschaft, und sie hatten gehofft, dass sich nach Jahrhunderten der Fremdherrschaft alles zum Guten wenden werden: Befreiung statt Unterdrückung, Gerechtigkeit statt Willkür, Hoffnung statt täglich neuer Verzweiflung. Aber der Messias war ausgeblieben, und sie waren fest überzeugt, dass es nötig sei, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Geduld und Abwarten führten erkennbar zu nichts, im Gegenteil. Der Druck der Besatzungsmacht nahm ständig zu. Schon lange vor Rom hatte das Volk Israel unter wechselnden Besatzern das Schicksal einer ausgeplünderten Kolonie kennen gelernt. Aber so brutal, so perfekt wie die Römer hatte es keiner getrieben.

Doch gibt es so etwas wie ein Recht, sich mit Gewalt gegen Gewalt zu wehren, Böses mit Bösem zu vergelten? Gibt es so etwas wie einen gerechten Krieg? Indirekt erinnert Paulus die Römische Christengemeinde im zwölften Kapitel seines Briefes an die Worte Jesu, die wir heute unter der Bezeichnung Bergpredigt kennen: Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden. Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Gottes Kinder heißen.

Radikaler kann ein Gegenentwurf gegen die Wirklichkeit dieser Welt nicht sein. Denn die Unterdrückung, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und die gewaltsame Gegenwehr ziehen sich seit jeher durch die Menschheitsgeschichte. Biologisch und entwicklungsgeschichtlich steckt der Wolf in jedem von uns. Die Gier zu besitzen und festzuhalten wird oft genug nur durch einen dünnen kulturellen Firnis überdeckt, von dem die Psychologen sagen, er sei anerzogen.

Bert Brecht hat es in seiner Dreigroschenoper den Bettlerkönig Peachum lakonisch so formulieren lassen:

(Ein guter Mensch sein – ja, wer wär’s nicht gern?)
Doch leider sind auf diesem Sterne eben,
die Mittel kärglich und die Menschen roh.
Wer möchte nicht in Fried und Eintracht leben,
doch die Verhältnisse, die sind nicht so.

Musik (Dreigroschenoper)

Wer möchte nicht in Fried und Eintracht leben, doch die Verhältnisse, die sind nicht so. Das klingt wie die ebenso zynische wie achselzuckende Einsicht, dass die Verhältnisse eben böse, die Menschen auch und deshalb niemand irgendeine persönliche Schuld trägt. Genau besehen ist es die uralte, tödliche Doppelmoral, die alles rechtfertigt, weil niemand für die Verhältnisse verantwortlich zeichnet.

Wer mit Bert Brecht den fatalistischen Vierzeiler aus der Dreigroschenoper zitiert, der lässt sich selber ganz aus dem Spiel und schaut die Dinge gewissermaßen von außen an. Tut so, als habe das Ganze mit ihm selbst nichts zu tun. Die Verhältnisse, die sind einfach da, man wurde hinein geboren, konnte sich diese Welt nicht aussuchen, und vor allem sind es immer die anderen. Die Welt ist klar in Täter und Opfer aufgeteilt, und man selber ist natürlich bei den Opfern.

Nach dem letzten großen Krieg war das besonders gut zu beobachten. Die deutsche Kapitulation war unterzeichnet, und die meisten Täter waren verschwunden. Dafür war Deutschland plötzlich voll von Opfern. Niemand wollte Hitler gewählt oder die Nazis unterstützt haben, so gut wie niemand hatte irgendetwas von den Verbrechen der Nazis gewusst, und die meisten sahen sich unschuldig als Opfer eines fürchterlichen Zusammenbruchs am Ende eines Krieges, der aber von Deutschland ausgegangen war.

Der uralte Mechanismus der Selbst-Entschuldigung funktioniert bis heute perfekt. Das Böse ist immer irgendwie außerhalb. Dabei weiß die Psychologie längst, dass niemand ohne Aggressionen leben kann, dass wir alle unsere finsteren vernichtenden, zerstörerischen Gedanken haben. Denn jeder Mensch ist ein Teil dieser Welt und formt sie ein wenig mit.

Vor einiger Zeit hatte ich ein langes Gespräch mit einem jungen Mann, der in seiner Jugend sehr unter seinen verständnislosen und harten Eltern gelitten hatte. Er war immer noch voller Zorn und machte sie für seine verlorene Jugend und seine Schwierigkeiten im Leben verantwortlich. Zugleich aber hatte er begonnen, auf sehr subtile Weise an seinen alt gewordenen Eltern Rache zu nehmen, und er glaubte sich damit im Recht nach allem, was einmal war. Dass er inzwischen vom Opfer zum Täter geworden war, das wollte er nicht sehen und auch nicht, dass er auf diese Weise die Spur des Bösen weiter zog.

Musik

Seit langer Zeit diskutieren die Theologen darüber, welche der vielen Worte und Gleichnisse Jesu wirklich auf ihn zurückgehen. Schließlich ist die Quellenlage unsicher, denn die Evangelien wurden erst Jahrzehnte nach den Ereignissen von Ostern aufgeschrieben. Dabei gibt es unter den Forschern große Einigkeit über ein wesentliches Merkmal: Immer dann, wenn die Pointe eines Wortes oder einer Geschichte völlig dem zuwiderläuft, was sonst so üblich ist, wozu der „gesunde Menschenverstand“ rät, was jeder denken und tun würde, immer dann wenn die üblichen menschlichen Verhältnisse auf den Kopf gestellt werden, immer dann sind wir ganz nahe dran an der Botschaft Jesu.

So lehrte er, dass man nicht nur seinen Nächsten lieben solle wie sich selbst, sondern sogar seine Feinde und für seine Verfolger beten soll. Er predigte nicht Vergeltung, sondern Vergebung, pries einen daher gelaufenen Migranten aus Samaria als Musterbild von Barmherzigkeit und pflegte freundlichen Umgang mit Menschen, zu denen alle anderen aus guten Gründen Abstand hielten. Seine Jünger begannen zu begreifen, dass dieser Jesus von Nazareth etwas ganz und gar Neues in diese Welt bringen könnte. Und sie erzählten sich, dass er einmal sogar gesagt habe: „In der Welt habt ihr Angst. Aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ In diesem Geist schreibt dreißig Jahre später der Apostel Paulus an die Christengemeinde in Rom:

Zitator: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“.

Wenn das die Maxime eines christlichen Lebenswandels sein sollte, dann ist das nicht weniger als das Ende vom Mythos der ewigen Opferrolle. Paulus sagt: Ihr Christen könnt das alles hinter euch lassen. Nicht aus eigener Kraft, sondern weil Christus euch dazu frei gemacht hat. Ihr seid ja viel mehr als einfach nur Opfer der Verhältnisse: Ihr seid Gottes geliebte Kinder, so wie es einmal am Anfang war, vor aller Zeit. Das fürchterliche, tödliche und zerstörerische Netz, in dem ihr Menschen euch seitdem immer wieder verfangen habt, ist zerrissen.

Ihr müsst nicht mehr auf die elenden Verhältnisse starren wie das Kaninchen auf die Schlange und euch davon lähmen lassen. Ihr seid frei geworden, zu tun, was eigentlich eure Bestimmung ist: Ihr könnt den Zwang des Bösen brechen, den Kreislauf der Gewalt beenden. Das Gute ist möglich, und Ihr könnt gleich damit beginnen, ganz im alltäglich Kleinen.

Allerdings darf man vermuten: Paulus hätte sich diesem Thema kaum so ausführlich gewidmet, wenn die Christen sich damals bereits ganz selbstverständlich so verhalten hätten. Es scheint ähnlich gewesen zu sein wie heute: Gute Vorsätze haben meistens eine begrenzte Lebensdauer, und nichts ist schwieriger, als sein Verhalten wirklich zu ändern. Darum finden sich immer wieder in den Paulusbriefen Ermahnungen zu Friedfertigkeit und Gelassenheit, Freundlichkeit und Geduld. Die Jahreslosung für das vor uns liegende Jahr steht ganz am Ende einer langen Passage im zwölften Kapitel des Römerbriefes, in der Lebensregeln für das Leben in der Gemeinde gegeben werden. Da heißt es:

Zitator: „Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an. Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn. Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet. Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft. Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht. Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden. Seid eines Sinnes untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den geringen. Haltet euch nicht selbst für klug.

Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr. «Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln«. Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“

Und dieser letzte Satz steht im Singular, in der Einzahl. Er richtet sich nicht mehr an die Gruppe der Gemeinde, sondern an jeden Einzelnen, ganz persönlich.

Musik

„Wer möchte nicht in Fried und Eintracht leben,
doch die Verhältnisse, die sind nicht so.“

Mit den zynischen Versen des Bettlerkönigs Peachum aus der Dreigroschenoper hält Bert Brecht der Menschheit den Spiegel vor. Da scheint beides auf furchtbare Weise zusammen zu gehen: Die Zustimmung zu einer allgemeinen Moral und zugleich das Achselzucken über das eigene Versagen. Ein Bild der Hoffnungslosigkeit.

Dagegen setzt die Christenheit ihren uralten Glauben: Seit Weihnachten, seit Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist, hat in Wahrheit das Böse nicht mehr das letzte Wort. Es ist täglich neu eine große Aufgabe für jeden einzelnen Menschen, aber das Gute kann das Böse überwinden. Christen brauchen die Opferrolle nicht mehr. Sie brauchen vor dem Bösen nicht zu resignieren. Sie können aus dem Kreislauf der Hetze und der üblen Nachrede, der Verdächtigung und Bezichtigung, der Anklage und der Beschuldigung, der Gewalt und der Gegengewalt ausbrechen. Niemand sagt, dass das einfach ist. Aber die Jahreslosung für das Jahr 2011 bietet in der Tat etwas Neues an: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“

Ich glaube, der Apostel Paulus meinte damit auch: Warte nicht, dass die Verhältnisse sich ändern, dass die Menschen besser werden. Da kannst du lange warten. Ändere du dich selbst, werde du selbst besser, geduldiger, friedfertiger, freundlicher.

Lass dich nicht von deiner Angst überwinden, sondern überwinde sie mit Hoffnung. Lass dich nicht von deinen schlechten Vorahnungen überwinden, sondern überwinde sie mit Zuversicht. Lass dich nicht von deinen negativen Erfahrungen überwinden, sondern erinnere dich an deine guten. Orientiere dich nicht an dem, was andere falsch machen, sondern tu mutig selbst das, was du als richtig erkannt hast. Und wisse am Beginn dieses neuen Jahres. Die Besserung der Welt und deine eigene Besserung hängen zusammen.

Musik

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