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In der Wartehalle
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In der Wartehalle

Johanna Fröhlich
Ein Beitrag von Johanna Fröhlich, Evangelische Pfarrerin, Gießen
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Ich renne dem Zug noch hinterher, aber nein. Er fährt mir vor der Nase weg. Wie ärgerlich. Ich trotte in die Wartehalle des Gießener Bahnhofs. Mein nächster Anschluss fährt erst wieder in einer Stunde. Ich bin genervt.

Begegnungen im Wartesaal

Ich erinnere mich daran, wie oft ich hier als Studentin ein, zwei Stunden festsaß, weil ich den Zug verpasst hatte. Aber ich erinnere mich auch an die Begegnungen, die ich hier in diesen Wartezeiten hatte. Einmal hatte ich mich mit einem Buch in die Halle gesetzt. Ein Fremder sprach mich auf das Buch an: ‚Siddhartha‘ von Hermann Hesse.

"Sei nicht mit dem Kopf schon woanders"

Er erzählte mir von seinen Erfahrungen damit. Und ich begriff: Ich hatte die Geschichte gelesen, aber die tiefe Weisheit noch gar nicht erfasst. Dieser Mann hat mich ihr ein Stück nähergebracht. Ich weiß noch wie heute, was er zitierte: „Wenn ich sitze, dann sitze ich. Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich. Wenn ich esse, dann esse ich.” Er brachte mir bei: „Tue gerade nur das, was du tust. Da, wo du bist. Sei nicht mit dem Kopf schon woanders.“ Mit dieser Einsicht verflog der ganze Ärger über den verpassten Zug.

"Und immer noch ärgere ich mich über einen verpassten Zug"

Und jetzt bin ich wieder hier, viele Jahre später. Und immer noch ärgere ich mich über einen verpassten Zug. Offensichtlich reicht es nicht, eine kluge Weisheit einmal verstanden zu haben. Achtsam durch den Tag zu gehen braucht Übung, ich muss das wiederholen. Damit beginne ich jetzt und sage mir: „Ärger‘ dich mal nicht über die Bahn. Auch nicht über dich selbst!“ Ich setzte mich an einen schönen Platz. Komme zur Ruhe. Atme ein. Atme aus. Und denke an ein Gebet aus der Bibel: „Warum bist du so bedrückt, meine Seele? (…) Warte nur zuversichtlich auf Gott!“ (Psalm 42,12). Ich werde ruhig.

"Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich fahre, dann fahre ich"

Was hatte mir der Fremde damals geraten? Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich fahre, dann fahre ich. Jetzt bin ich für eine Stunde einfach hier in dieser Wartehalle. Später fahre ich weiter. Und bis mein Zug kommt, unterhalte ich mich mit der netten jungen Frau neben mir über das Buch, das sie in der Hand hält: „‘Das Café am Rande der Welt‘. Gefällt es Ihnen?“

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