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Warum all die Trauertage im November?
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Warum all die Trauertage im November?

Thomas Zels
Ein Beitrag von Thomas Zels, Pastor, Freie evangelische Gemeinden Marburg

Ein kalter, sonniger Tag auf einem Friedhof bei Marburg. Soldaten der Reserve in Uniform, Feuerwehrleute in Montur und ein paar normale Bürger, die meisten über siebzig, stehen im Halbkreis. Die Blechbläsergruppe trompetet "Das Lied vom guten Kameraden", gefolgt von „Stern auf den ich schaue“. Dann legt der Bürgermeister einen Kranz nieder und hält eine kurze Rede. Die Blechbläser spielen noch einmal \"Where have all the flowers gone?" – "Sag mir, wo die Blumen sind". Ein junges Paar mit Kinderwagen kommt vorbei. Die Frau fragt halblaut: Ist heute was Besonderes? Ja, sagt ein älterer Herr leise in ihre Richtung, heute ist doch Volkstrauertag! Ach so – danke, sagt die Frau etwas verlegen. Das Paar geht weiter. Volkstrauertag scheint nicht ihr Ding zu sein.

Heute schon der Toten gedacht? Der November bietet reichlich Gelegenheit zum Totengedenken. Vor knapp zwei Wochen waren Allerheiligen und Allerseelen, nächste Woche ist Totensonntag und heute haben wir den Volkstrauertag. Ziem-lich viele Anlässe zum Trauern in einem Monat. Aber viele kriegen diese Tage und die Gedenkfeiern dazu gar nicht richtig mit. Oder können nichts damit anfangen. Feiern zum Totengedenken wirken deshalb manchmal wie Verlegenheitsgesten.

Der Volkstrauertag hat die Kriegstoten im Blick. Krieg ist mit das Schrecklichste, was einem Land passieren kann. Der letzte Krieg in Deutschland ist, Gott sei Dank, lange her. Jüngere Generationen kennen ihn nur noch aus dem Ge-schichtsunterricht und vielleicht aus den Erzählungen ihrer Großeltern. Aber es vergeht kein Tag, an dem wir nicht in den Nachrichten von schrecklichen Bombardierungen hören, von militärischen Schlägen, von Terrorakten und Flüchtlingsströmen in anderen Ländern. Anlass genug, den Volkstrauertag zu nutzen, um daran zu erinnern, wie schrecklich der Krieg hier bei uns war und wie sehr Menschen heute in anderen Ländern unter Krieg leiden. Aber irgendwie fehlt die richtige Art des Gedenkens. Wie begeht man so einen Feiertag?

Seit 1952 ist der Volkstrauertag offizieller Feiertag. Deshalb gibt es da eine Rede des Bundespräsidenten, eine Gedenkstunde im Bundestag und eine Kranzniederlegung. Man flaggt auf Halbmast. Aber an vielen Bundesbürgern geht das alles irgendwie vorbei. So richtig aktiv und freiwillig gedenkt da kaum jemand. Trotz der vielen Kriegstoten und Gewaltregime auf der Welt gelingt es nicht, den Bogen vom Volkstrauertag ins Hier und Jetzt zu schlagen. Ich finde Gedenktage wie diesen enorm wichtig. Wir brauchen Möglichkeiten, aus der Vergangenheit zu lernen. Nur, wie kann das gehen, aus der Vergangenheit zu lernen?

Mein Schwiegervater ist 1917 geboren. Also im Ersten Weltkrieg. Als er zweiund-zwanzig war, brach der Zweite Weltkrieg aus und er wurde eingezogen nach Russland an die Front. Er hat überlebt. Er hat nie darüber geredet, was er im Krieg erlebt hat. Auch nicht darüber, was er getan oder wobei er als Soldat mitgemacht hat. Nur meine Schwiegermutter konnte das hin und wieder. Sie war als Neunjährige in Berlin, als die Russen die Stadt eingenommen haben. Sie erzählte manchmal von den brutalen Nachstellungen der Soldaten, von Vergewaltigungen, Hunger und der Flucht in den Westen, ließ aber vieles im Dunkeln.

Meine Schwiegereltern wohnten in Lüdenscheid in Nordrhein-Westfalen. Von ihrer Wohnung aus konnte man auf einen kleinen Park sehen. In dem Park steht eine überlebensgroße Bronzeskulptur auf einem Steinsockel. Die Lüdenscheider nennen sie den Bogenschützen. Eigentlich heißt sie "Der große Wächter" und wurde 1937 von Georg Kolbe für eine Kaserne geschaffen, um den Soldaten in Ausbildung ein Leitbild zu geben: den athletischen Wächter im Dienst für sein Volk. Der unbekleidete Held mit Bogen sieht so aus, als würde er nachdenken. Er scheint keinen Schmerz zu kennen. Er ist Krieger und schaut entschlossen in die Ferne. Seit 1960 steht die Skulptur mitten in Lüdenscheid.

Meine Frau und ich waren während meines Theologiestudiums zu Besuch bei meinen Schwiegereltern, zufällig an einem Volkstrauertag. In dem Park standen Kriegsveteranen um die Bronzefigur. Ein Pfarrer hielt eine Ansprache. Eine Blas-musikgruppe spielte "Ich hatt´ einen Kameraden". Das war das einzige Mal, dass mein Schwiegervater sich auf seine Kriegserinne-rungen bezog. Er fragte mich, den angehenden Pastor: "Wieso lässt Gott solche Kriegsgräuel zu? Kann er vergeben, was sich Menschen gegenseitig im Krieg antun?" Ich versuchte ihm zu antworten und sagte: "Ich glaube, Jesus hat am Kreuz das Leid geteilt, das Menschen sich gegenseitig antun. Er schaut nicht weg und geht auch nicht weg, wenn wir schuldig werden. Er kann auch die größte Schuld vergeben." Mein Schwiegervater hörte sich nachdenklich an, was ich sagte. Aber er wollte nicht weiter darüber reden. Ich habe still für ihn gebetet, dass er sich an Gott wenden könne, um sich mit seiner Vergangenheit zu versöhnen.

Heute ist Volkstrauertag. Er gehört zu den sogenannten stillen Feiertagen. Im Jahr 1919 schlug der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge den Gedenktag für die gefallenen deutschen Soldaten des Ersten Weltkrieges vor. Die Nationalsozialisten nannten den Volkstrauertag Heldengedenktag und miss-brauchten ihn zur Kriegsverherrlichung. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges soll der Tag an die Kriegstoten und Gewaltopfer aller Nationen erinnern.

Das klingt erst mal etwas abstrakt. Deshalb haben fünf Historiker mit einer Aktion versucht, die Ereignisse der Novemberprogrome von 1938 wieder in die Gegenwart zu ho-len. Über einen Twitter-Account las sich das, als würde es gerade passieren. Da konnte man zum Beispiel am 9. November kurz nach 23 Uhr lesen: „In Aachen hört Alex Matthes Geräusche in seiner Bäckerei, er vermutet Einbrecher. Tatsäch-lich ist es die SA, die alles verwüstet.“ Vierzig Minuten später: „Die Synagoge in Fulda wird angezündet.“ Kurz nach 2 Uhr morgens dann die Meldung: „Oelde: Ein Mädchen wird im Schlafanzug auf die Straße getrieben und dort mit Stöcken geschlagen, bis sie zusammenbricht.“

Diese Mitteilungen in der Twitter-Timeline haben viele aufgeschreckt und verstört. Was die Nazis damals Jüdinnen und Juden angetan haben, rückte ganz nah. Das ist gut so. Denn seit 1945 sind weltweit wieder über fünfundzwanzig Millionen Menschen durch Kriege und Völkermorde umgekommen. Mehr als fünfzig Millionen sind zur Zeit auf der Flucht. Sie mussten ihre Heimat verlassen, um Schutz zu suchen vor Krieg, Verfolgung und Gewalt. Weil sie einer bestimmten Rasse oder Religion angehören, oder wegen ihrer politischen Überzeugung. Alle vier Sekunden wird auf der Welt ein Mensch gezwungen zu fliehen, um sein Leben zu retten. Meist verliert er dabei alles. Familie, Heimat, Hab und Gut. Die Vereinten Nationen nennen den Krieg in Syrien den \"größten humanitären Notfall unserer Zeit\". Fast die Hälfte aller Syrer sind auf der Flucht. Und jeder zweite ist ein Kind.

Der Volkstrauertag ruft uns ins Gedächtnis, wie grausam Krieg und Vertreibung sind. Und er fordert uns heraus, gegen solches Leid anzugehen. In der Bibel steht: Denkt an die Gefangenen und nehmt an ihrem Schicksal Anteil, als wärt ihr selbst mit ihnen im Gefängnis. Habt Mitgefühl mit den Misshandelten, als wäre es euer Körper, dem die Schmerzen zugefügt werden. (Hebräer 13,3)

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