"Getröstet" - Jahreslosung 2016
Ich habe eine Narbe am Kinn. Inzwischen sieht man nur noch einen feinen, weißen Strich. Aber weil mich diese kleine Narbe jeden Morgen im Rasierspiegel anblitzt, erinnert sie mich natürlich ständig daran, wie sie entstanden ist. O Mann. Ich war damals neun. Und konnte es nicht lassen, im Winter vor unserem Haus auf dem Eis zu schlittern. Tja, und dann bin ich eines Tages ausgerutscht, gestolpert und voll aufs Kinn geknallt. Puh … das hat vielleicht einen Schlag getan. Ich wollte mich aufrappeln, hab mir ins Gesicht gefasst – und alles war blutig. Die Hände voller Blut, das Gesicht voller Schmerzen, der Herz auf hundertachtzig – und um mich herum die fassungslosen Gesichter meiner Spielgefährten.
Einer von ihnen ist zum Glück sofort zu meiner Mutter gerannt. Und ich erinnere ich mich genau daran: Wie meine Mutter mich in den Arm genommen hat. Wie sie beruhigend auf mich eingeredet hat. Wie sie mir mit einem Tuch vorsichtig das Blut abgewischt hat. Und dass sie mir einen heißen Kakao gemacht hat, bevor wir ins Krankenhaus gefahren sind, um die Platzwunde nähen zu lassen. Und irgendwie, in den Armen meiner Mutter, war auf einmal alles wieder in Ordnung. Sie hat dem kleinen, durchgefrorenen Jungen geholfen, wieder bei sich anzukommen. Ja, mehr noch: Mit der heißen Tasse Kakao in der Hand konnte ich wieder glauben, dass das Leben es doch gut mit mir meint.
Getröstet werden ist eine starke Erfahrung. Kein Wunder, dass die Jahreslosung der Kirchen für das Jahr 2016 dieses Thema aufnimmt: „Gott sagt: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Dieser biblische Vers soll so etwas wie ein geistliches Motto für die nächsten zwölf Monate sein. Die Fragen, wann ein Mensch Trost braucht – und wie man ihn bekommt, sind nicht ohne. Die deutsche Sprache macht ja auch deutlich: Es gibt kaum etwas Schlimmeres, als wenn ein Ort, ein Leben oder eine Situation „trostlos“ ist. Ich vermute mal: „Trostlos“ möchte niemand genannt werden. Also lohnt es sich, dem Geheimnis des Trostes ein bisschen intensiver nachzuforschen.
Getröstet-Werden ist nicht nur eine Kindheitserfahrung, sondern etwas, das man als Erwachsener genauso braucht. Auch wenn man sich dann vermutlich weniger das Kinn als die Seele blutig stößt. Aber ich kenne bis heute Momente, in denen ich mich ähnlich fühle wie damals, als ich auf meine blutverschmierten Hände gestarrt habe. Und dann will ich schon wissen, ob das stimmt, was der biblische Leitspruch für 2016 verkündet: „Gott sagt: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“
Im Deutschen gibt es ja die Redewendung: „Der da ist nicht ganz bei Trost.“ Und damit meinen wir: „Der hat ’nen Knall!“ Kennen Sie bestimmt. Manchmal lohnt es sich aber, die Sprache ein bisschen genauer zu betrachten, wenn man so ein sensibles Phänomen wie den „Trost“ verstehen will. Denn hinter dem saloppen Satz „Der ist nicht ganz bei Trost“ verbirgt sich eigentlich was ganz anderes. Ja, das Wort „Trost“ bedeutet nämlich ursprünglich „Innere Festigkeit“. Sprich: Wenn jemand „nicht ganz bei Trost ist“, dann ist er eben nicht „fest“, dann fühlt er sich haltlos, innerlich zerrissen, unsicher, verwirrt, labil, ängstlich und orientierungslos.
Und mir fallen sofort einige Gründe ein, die dazu beitragen können, dass jemand den Halt verliert: Manchmal reicht da schon eine herbe Enttäuschung im Job, eine plötzliche Beziehungskrise, ein ausgiebiger Streit unter Freunden oder der mulmige Eindruck, das man zurzeit einfach nicht weiß, wohin sich das Leben entwickeln soll. So was kenne ich selbst. Mancher wird in diesen Tagen auch deshalb unsicher, weil er sich fragt, wie Deutschland eigentlich in Zukunft aussehen soll. Da ist die „Innere Festigkeit“ schnell weg. Und was dann?
Trost ist also nicht nur das, was ich bekomme, wenn mich jemand in einer Krise in den Arm nimmt, sondern meint etwas viel weiter Gehendes, etwas Wunderschönes, Sinnstiftendes: Es geht um ein Grundgefühl im Leben. Darum, ob ich etwas bekomme, das mir Halt gibt und mir hilft, mit Ängsten gelassen umzugehen. So, wie einen seine Mutter tröstet. Ach ja: Als dieser Satz Ende des 6. Jahrhunderts vor Christus aufgeschrieben wurde, da hatte „Trösten“ vor allem eine praktische Bedeutung. Es hieß nämlich „Aufbauen“, „etwas wieder in Ordnung bringen“. Wenn einer einen anderen tröstet, dann baut er ihn wieder auf. Dann hilft er ihm mit Worten und Taten, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen oder sich wieder zu sammeln.
Ist doch erstaunlich: Möglicherweise geht es im Leben gar nicht in erster Linie darum, dass alles immer glatt läuft. Auch wenn wir uns das natürlich wünschen. Klar. Ist nur ziemlich unrealistisch. Es wird immer wieder passieren, dass irgendwelche Erlebnisse oder Sorgen dazu führen, dass ich mich fühle, als würde ich innerlich zerbersten. Dass Träume und Sicherheiten zerbrechen. Und dann muss ich etwas viel Wichtigeres klären: Wer oder was tröstet mich eigentlich in einer solchen Situation? Wer baut mich dann wieder auf? Wer gibt mir die innere Festigkeit zurück? Wer steht zu mir? Welche Menschen oder welches Lebensfundament geben mir in Krisen die Kraft, weiter zu machen?
Die Jahreslosung aus dem Alten Testament behauptet: Gott ist so ein Tröster. Und wenn Gott Menschen tröstet, dann auf ganz besondere Weise – nämlich wie eine gute Mutter. Zärtlich, zugewandt, liebevoll, achtsam und sanft. Wie eine Mutter, die für ihr Kind immer nur das Beste will. Natürlich gibt es auch Leute, die andere Erfahrungen mit ihren Müttern machen mussten. Trotzdem war das Bild der tröstenden Mutter schon vor Jahrtausenden so kostbar, dass Gott hier ganz positiv mütterlich beschrieben wird. Und wenn Gott wirklich so tröstet, wie ich das mit meiner Mutter erlebt habe, dann klingt das vielversprechend.
Kann man sich wirklich von Gott trösten lassen? So wie man als Kind getröstet wird? Immerhin verheißt das die neue Jahreslosung der christlichen Kirchen für 2016: „Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Nun, einige Menschen tröstet schon ihr festes Vertrauen darauf, dass Gott da ist. Dass sie glauben, dass da einer ist, der sie hört und dem sie ihr Herz ausschütten dürfen. Den sie notfalls auch anschreien dürfen in ihrer Not. So, dass sie den Kummer nicht in sich reinfressen müssen, sondern wissen, wo er gut aufgehoben ist.
Der Philosoph Immanuel Kant hat einmal sehr berührend geschrieben: „Ich habe mein Leben lang viele kluge und gute Bücher gelesen. Aber ich habe in allen nichts gefunden, was mein Herz so still und froh gemacht hätte, wie die vier Worte aus Psalm 23: ‚Du bist bei mir.“ Du bist bei mir. Allein diese biblische Zusage hat einem der gebildetsten Männer der Neuzeit Halt gegeben. So wie ein Kind sein Leben mutig angeht, nur weil es weiß, dass seine Mutter da ist. Und so eine gute Erfahrung bleibt. Auch wenn die leibliche Mutter diesen Trost irgendwann nicht mehr geben kann.
Das heißt: Wenn ein Mensch glaubt, dass Gott bei ihm ist, dann kann sein „Herz still und froh werden“, wie Kant es formuliert. Und wer ein frohes, stilles Herz hat, der wird auch durch knifflige Herausforderungen nicht „trostlos“. Und der hat nicht gleich Angst, dass er den Boden unter den Füßen verliert, nur weil ihn das Leben oder die gesellschaftlichen Entwicklungen mit ihren Herausforderungen in Frage stellen.
Wenn ich im Spiegel die Narbe an meinem Kinn sehe, erinnere ich mich manchmal an meinen dramatischen Sturz auf dem Eis. Und ab und an kommen dann auch die Gefühle von damals wieder hoch. Vor allem dieser schöne Moment, als meine Mutter mich getröstet hat und in dem ich als Neunjähriger dachte: „Wenn Mama bei mir ist, dann kann mich nichts aus der Bahn werfen. Und dann tut auch die Wunde nur noch halb so weh“. Das hat mich geprägt. Für das frische Jahr wünsche ich mir viele solcher Trostmomente. Weil ich weiß: Wenn ich getröstet bin, wenn ich mich gehalten und geliebt fühle, dann wirft mich nichts so schnell um. Insofern gefällt mir die neue Jahreslosung richtig gut: „Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“