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Als Herbert sich einmal umdreht
Bildquelle Pixabay

Als Herbert sich einmal umdreht

Michael Becker
Ein Beitrag von Michael Becker, Evangelischer Pfarrer, Kassel

Allein sein ist schwer. Das weiß Herbert. Vor vier Jahren stirbt seine Frau. Herbert ist allein. Anfang sechzig, Frührentner, kein Plan. Herbert schlurft durch die Tage. Mal hierhin, mal dorthin. Seine Gedanken sind mehr auf dem Friedhof als in der Welt. Die Wohnung ist auch kein Schmuckstück mehr. Die Schuhe ungeputzt. Meist ist er im Kaffeeladen am großen Platz. Da sitzt Herbert. Eine Stunde morgens, ein bis zwei am Nachmittag. Isst und trinkt und schaut vor sich hin. Denkt sich seinen Teil. Einmal, im Frühherbst, denkt Herbert mehr als sonst. Wenn Gott mein Freund wäre, denkt er, müsste mal was passieren mit mir. Er weiß nicht, was passieren müsste. Also schaut er weiter vor sich hin. Tagelang, wochenlang. Und merkt nicht, dass längst etwas passiert ist.

Naomi ist passiert. Sie arbeitet im Café. Dort kocht sie den Kaffee, schmiert Brötchen. Und spricht schlecht Deutsch. Deswegen bleibt sie lieber hinter den Kulissen. Aber sie kennt Herbert. Und mag ihn. Sie spürt seine Verlorenheit. Es geht ihr genauso. Die Kinder sind groß. Ihr Mann ist bei einer anderen. Naomi sieht Herbert fast jeden Tag. Der sieht nichts. Guckt woanders hin. Bis es mal so laut klappert, dass er sich umdreht. Den Blick sieht, den Naomi ihm schenkt. Kein Zufallsblick, das sieht Herbert. Und blickt gleich anders zurück. Wärmer, herzlicher. Zupft sogar am Hemd und streicht sich über die Haare, damit er besser aussieht. Da lacht Naomi. Verlegen und verliebt. Herbert bestellt noch einen Kaffee. Den dritten heute. Das wäre was, denkt er. Naomi und ich. Afrika und Nordhessen. Wie klein die Welt ist. Und Gott so groß.        

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