Ihr Suchbegriff
Zu Fuß und ohne Geld

Zu Fuß und ohne Geld

Charlotte von Winterfeld
Ein Beitrag von Charlotte von Winterfeld, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt

Jens ist 53 Jahre alt. Er hat ein Geschäft, ein Haus, eine Familie – und steht unter Dauerdruck. Eines Morgens beim Rasieren wird Jens klar: "So kann ich nicht mehr weiterleben!" Seinen Buchladen, überhaupt sein Leben, empfindet er als ständigen unerträglichen Überlebenskampf. "Du musst kaufen, du musst dies tun, du musst noch mehr Versicherungen haben, Kredite aufnehmen, das hat mich versklavt." So hat er es vor einigen Wochen in der Fernseh-Dokumentationsreihe 37 Grad erzählt.

Jens will wandern. Ein Jahr durch Deutschland: ohne Geld und Zelt, mit viel Zeit. Raus aus der Komfortzone und raus aus der angeblichen Sicherheit. Seine Familie ist nicht begeistert, aber sie lässt ihn ziehen und unterstützt ihn aus der Ferne. Denn Jens will unbedingt etwas ändern in seinem Leben. Er leidet unter den Widersprüchen der Konsumgesellschaft und dem Wohlstand auf Kosten anderer. Er will mit seiner Wanderschaft auch für den Frieden auf der Welt werben.

„Alles ein bisschen viel auf einmal – der spinnt doch“, war mein erster Gedanke, als ich davon gehört habe. Jens ist kein Camping-Freund und Outdoor-Typ, er hat vorher nie draußen geschlafen, er bevorzugt ein Glas mit gutem Rotwein und hatte bisher ein gemütliches Zuhause. Auf seiner Wanderung ohne feste Route muss er jetzt Menschen um ein Dach über dem Kopf bitten. Er fischt sich Lebensmittel aus Abfallcontainern und lernt, in der Natur unter freiem Himmel zu schlafen. Er geht auch in Restaurants und bittet um Reste. Schon ein trockenes Brot ist wie ein Festmahl für ihn.

Manchmal ergibt sich erst nach einer Woche die nächste Gelegenheit zu duschen. Er magert ab, seine Haare wachsen. Manchmal gerät er auch an seine Grenzen, körperlich und seelisch. Was bewirkt er schon groß, er allein auf Wanderschaft? Die Welt wird jedenfalls nicht friedlicher und hat noch nie auf Aussteiger wie ihn Rücksicht genommen.

Aus dem Hamsterrad ausbrechen, das wollen viele. Nicht mehr mitmachen bei den Zwängen des Alltags. Irgendetwas grundlegend verändern, neu starten. Jens hat das gemacht. Er hat zwar nicht die Welt gerettet, aber ein Zeichen gesetzt. Und er hat eine Lebensform gefunden, die zu ihm passt. Er wohnt jetzt in einem Bauwagen in der freien Natur. Wie lange, weiß er noch nicht.

Ich bin darüber ins Nachdenken gekommen. Allerdings bin ich nicht so radikal wie Jens. Ausbrechen aus meiner Familie und aus meinem Beruf kann und möchte ich gar nicht. Ich finde es trotzdem gut, dass Menschen wie Jens mir Alternativen zu meinem Leben vorleben. Nicht umsonst hatte Jens während seiner Wanderschaft total viele Unterstützer, die ihm ein Bett für eine Nacht gegeben haben oder positive Kommentare auf seiner Internetseite geschrieben haben. Es tut einfach gut zu wissen: Man könnte auch anders. Und wenn es auch nur auf Zeit ist. Jens hält den Traum von einem ganz anderen Leben in mir wach. Weihnachten ist auch das Fest der Träume.

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren