Ihr Suchbegriff
Lidstrich und Wimperntusche

Lidstrich und Wimperntusche

Ein Beitrag von Alrun Kopelke-Sylla, Pfarrerin, Echzell

Als ich neulich mit Gisela telefonierte, sagte sie ganz am Schluss: „Du, ich hab mal ’ne Frage an Dich. Aber lach mich nicht aus!“ „Nein, das tu ich nicht!“, sagte ich, während ich überlegte. Gisela ist die Mutter einer Freundin, Anfang 60. Sie ist sehr interessiert am Glauben und der Bibel. Was könnte sie wollen?

„Also“ sagte sie vorsichtig. „Hm … Ich wollte fragen, ob Du mir mal zeigen könntest, wie man ein dezentes Augen-Make-up macht. Ich hab das schon ein paarmal ausprobiert, und es wird immer viel zu dick, es sieht schrecklich aus.“ Ich bin für einen Moment sprachlos. Damit habe ich nicht gerechnet. Aber ich freue mich und sag‘ zu Gisela. „Natürlich mach ich das, sehr gern sogar.“ Wir verabreden uns für nächsten Samstag.

Ich staune über diesen Anruf. Gisela war lange Jahre in einer christlichen Gemeinde, die die Bibel sehr eng auslegte und viele Regeln vorgab. Die Frauen dort trugen ausschließlich lange Kleider, hatten alle lange Haare und niemand schminkte sich. Jegliches sich-schön-machen galt als „eitel und hoffärtig“. Gisela hatte schon länger gespürt, dass diese Art von Glauben sie sehr einengte. Vor wenigen Jahren verließ sie diese Gemeinschaft und schloss sich einer evangelischen Gemeinde der Landeskirche an. Sie spürte: „Auch hier kann ich in Gemeinschaft mit anderen glauben. Die äußeren Regeln sind nicht das Wichtigste.“ Noch heute setzt sie sich viel mit der Bibel auseinander. Nach und nach änderte Gisela ihre Frisur und ihren Kleidungsstil, trug fröhlichere Farben und betonte auch mal ihre schlanke Figur. Sie blühte sichtbar auf.

Wir trafen uns und ich zeigte ihr, wie man sich dezent schminkt und die Augen betont, ohne dass das Make-up hervorsticht. Sie war ganz begeistert. Zuletzt fuhren wir noch gemeinsam einkaufen und sie kaufte sich eine getönte Creme, Lidstrich und Wimperntusche. Es hat mich berührt, wie sehr sie das genoss. Und ich bewunderte sie, dass sie mit über 60 ihr Leben nochmal neu sortiert und die Regeln hinterfragt, die sie seit Jahren antrainiert hat. Als wir uns verabschiedeten, lachte sie und sagte „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“.

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren