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Hoffnung in finsteren Zeiten

Hoffnung in finsteren Zeiten

Reiner Jöckel
Ein Beitrag von Reiner Jöckel, Pastoralreferent, Frankfurt
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Heute hören Sie die letzte Morgenfeier in diesem Jahr. Nur drei Tage trennen uns noch von 2020. Zeit, die vergangenen Monate Revue passieren zu lassen. Für viele auch ein Anlass, sich alles Mögliche für die kommenden Monate vorzunehmen: Im neuen Jahr mache ich es besser. Ich reiße mich am Riemen. Das Zeug da in der Ecke – das räume ich im neuen Jahr endlich weg. Die Schlamperei hat ein Ende. Spätestens Mitte Januar wird es wieder schwierig mit den guten Vorsätzen. Auch mir geht das so: Ich nehme mir vor, nicht mehr brauchbare Dinge aus dem Keller zu entrümpeln. Aber schon bald schleichen sich alte Gewohnheiten wieder ein.

Das nehme ich auch in der Politik wahr: Auch da gibt es ja immer wieder gute Vorsätze: weniger Kriege und weniger Rüstung, gerechtere Wirtschaft und weniger Armut, mehr Anstrengungen zur Verbesserung des Klimas, weniger Fake-News, weniger Lügen, Missbrauch und Egoismus. Aber dann bleibt doch oft alles beim Alten. Was ich besonders schlimm finde: Dass in vielen Ländern Korruption und Machtmissbrauch unter die Decke gekehrt werden. Hunderte Journalisten, die Dinge beim Namen nennen, sind auch im zu Ende gehenden Jahr immer noch zu Unrecht eingesperrt, werden vom Tod bedroht oder sind sogar ermordet worden.

Das berühmte Gedicht „An die Nachgeborenen“ von Berthold Brecht spricht mich in diesem Zusammenhang immer wieder sehr an.

 „Was sind das für Zeiten, wo
ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist,
weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!                                                         
Man sagt mir: iss und trink du! Sei froh, dass du hast!...
Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
ich es dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?
Und doch esse und trinke ich…

Ich wäre gerne auch weise.
In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
ohne Furcht verbringen.                                                                                       
 
Auch ohne Gewalt auskommen.
Böses mit Gutem vergelten.
Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
gilt für weise.
Alles das kann ich nicht:
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!“

Soweit Berthold Brecht.

Leben wir wirklich in finsteren Zeiten? Zumindest liegt weltweit vieles sehr im Argen. Ist das auch meine Bilanz für 2019?

Musiktitel 1: „Um neuen Anfang“ aus: Liebe, die bleibt. Gesänge für die Liturgie, Schola Kleine Kirche Osnabrück, Label: Mirasound 88918-2

Finstere Zeiten – ja, die gibt es leider immer wieder. Auch in meinem Leben. Krankheit, zerschlagene Pläne, Ohnmacht angesichts der Weltlage, die mich trotzdem nicht gleichgültig lässt. Ein ganz unglücksfreies Leben kann ich mir deshalb nicht vorstellen, auch wenn ich immer fragen möchte: Warum ist das so und wer ist dafür verantwortlich?  Davon handelt zunächst auch der Text des Liedes, das wir eben gehört haben. Der niederländische Pfarrer Huub Oosterhuis schreibt dort:

„Alt das Leben, das wir führen, wortlose Vergangenheit. Abgegrast die grünen Fluren und kein Hirte, der uns lenkt. Alltagstrott ohne Erlösen treibt uns gnadenlos zum Bösen.“

Aber dann folgt seine unerwartete Frage an Gott:

 „Kannst du jemals es ertragen, dass du mir nicht Zukunft bist?  Wie ein Grab bin ich, so dicht. Wälze fort das Todesgewicht. Öffne Räume mir und Zeiten, dass dein Name mich befreie!“

Ich wünsche mir das auch für meine ganz persönliche Bilanz des zu Ende gehenden Jahres wünsche ich mir das auch: Dass Gott mir und uns allen Räume und Zeiten eröffnen möge, wenn es scheinbar nicht weitergeht oder ich mit meinem Latein am Ende bin.

Das Lied gefällt mir. Es ist eine Art moderner Psalm und fast eine Form von Selbstwiderspruch: Einerseits spricht es von menschlichen Abgründen, andererseits höre ich da auch eine leise Stimme, wie sich vielleicht doch noch die Dinge zum Guten wenden. Ich denke mir: Wenn Gottes Anfang mit uns Menschen und der Schöpfung doch so gut war, wie es im Buch Genesis der Bibel heißt: Kann da alles schlecht sein und am Ende ins bedeutungslose Nichts versinken? Wird Gott es ertragen, dass er nicht unsere Zukunft ist, weil eher unsere Machenschaften und der Zweifel überwiegen? Bei aller menschlicher Freiheit: Gott trägt doch auch eine Verantwortung, weil er uns liebt? Auch ein Arzt geht nicht tatenlos an einem Verwundeten vorbei? Wenn meine Hoffnung bedroht ist, da brauche ich Worte, die von wirklich gelungenem Leben erzählen. Ich brauche Menschen, die danach leben, woran sie glauben - gerade in vermeintlich oder tatsächlich finsteren Zeiten.

Musiktitel 2: „Niederkommen wie Tau“ aus: Licht und Atem. Gesänge für die Liturgie, Schola Kleine Kirche Osnabrück, Label: Mirasound 399110

Ich brauche und entdecke immer wieder neu die Zuversicht: Gott hält diese Welt und alle Menschen aus. Wieviel unbegreifliche Geduld muss er mit uns haben? Er nimmt mich Menschen an in meiner Freiheit. Mit all meinen Fehlern und meiner Mittelmäßigkeit. Ich möchte lernen, mich von ihm tragen zu lassen, damit ich mich auch selbst ertragen kann und ich dann auch Manches in meinem Leben verändern kann

Der Glaube an Gott mag für manche Menschen Schnee von gestern sein; vielleicht wird er aber das Wasser von morgen, wenn Gottes Angesicht uns zugewandt bleibt. So lautet die Bitte am Ende dieses Liedes von Huub Ooosterhuis:

 „Wende uns zu dein Angesicht, Tau auf mein Herz, gib Augen Licht. Dass nicht, was du hast angelegt, durch Menschenhand wird weggefegt.“

Wo der Glaube verdunstet, da könnte Gott in der Luft liegen. Seine Geschichte mit den Menschen ist für mich wie ein Nadelöhr, durch das auch in meinem Leben immer wieder sein Hoffnungsfaden eingefädelt wird. Aber manchmal hängt für viele Menschen die Hoffnung auch an einem seidenen Faden, weil ihr Leben so traurig ist.

Es gibt ein Lied von Jochen Klepper, das oft zum Jahresschluss in Gottesdiensten gesungen wird. Dieses Lied ist in besonders finsterer Zeit geschrieben worden: Jochen Klepper, evangelischer Theologe, lebte zurzeit des Nationalsozialismus und war mit einer Jüdin verheiratet. Aus Angst vor der Deportation haben seine Familie und er keinen Ausweg mehr gesehen: Sie haben sich gemeinsam das Leben genommen. Und doch ist sein Lied auch ein Zeugnis der Hoffnung in auswegloser Situation. Im Liedtext heißt es:

 „Der du die Zeit in Händen hast, Herr, nimm auch dieses Jahres Last und wandle sie in Segen. Da alles, was der Mensch beginnt, vor seinen Augen noch zerrinnt, sei du selbst der Vollender…Bleib du uns gnädig zugewandt und führe uns an deiner Hand, damit wir sicher schreiten.“

Gott erspart uns wohl nicht die finsteren Zeiten, die oft Menschen verursachen. Aber am Weihnachtsfest diese Woche bin ich noch einmal daran erinnert worden: Gott wurde gerade in unsere Finsternis hineingeboren. Die Mitte unsere Nächte ist schon der Beginn eines neuen Tages. Und die Tage und Ereignisse des vergangenen Jahres sind aus Gottes Sicht nicht verloren, sondern werden zum Guten gewandelt. Hoffentlich auch deshalb, weil Gott es tatsächlich nicht ertragen will, nicht unsere Zukunft zu sein. Von mir erfordert es immer wieder ein offenes Herz, wachsame Ohren und mutiges Engagement, aus seiner Zusage zu leben: „Ich bin der, der für euch da ist“.

Musiktitel 3 „Gavotte“ BWV 1006 aus: Daniil Trifonov, Destination Rachmaninov Departure Label: Deutsche Grammophon 002894835335

Die Welt: An vielen Stellen befinden sich die Welt und viele Menschen derzeit im Krisenmodus. Da frage ich mich: Teile ich überhaupt diese Zuversicht aus dem Lied von Jochen Klepper: „Gott hält unsere Zeit in seinen Händen?“ Irgendwie habe ich immer wieder den Eindruck: Auch meine Zeit rieselt eher ziemlich schnell durch meine Hände. Manchmal komme ich da nicht mit. Dieses Gefühl habe ich immer öfter, je älter ich werde. Ein Gedanke, über den ich gerade am Ende eines Jahres nachdenke.

Trotzdem: Ich darf das Geschenk der Hoffnung Gottes wieder alle Hoffnungslosigkeit dankbar annehmen. Ich will mutig bleiben und mich engagieren. Was bedeutet das für mich? Es bedeutet ja nicht, dass ich mir einbilde: Ich bin der große Weltverbesserer. Mein Engagement bedeutet für mich in erster Linie: Ich will hören, wer ich vor Gott und für meine Mitmenschen sein kann. Und dieses aufmerksame Hören setzt doch voraus, dass ich überhaupt angesprochen werde. Es ist wie eine Stimme, die mich herausruft aus Wegen, die mich im Leben nicht mehr weiterbringen. Für mich persönlich ist das auch das Experiment, mich auf das Geheimnis Gott einzulassen und die Wirklichkeit um mich herum als eine Anrede durch ihn und durch meine Mitmenschen wahrzunehmen. Dieser Ruf macht mir deutlich: Es gibt einen tiefen Sinn in unserem Leben, der jedem von Menschen gesetzten Sinn vorausgeht. Ich kann ihn nicht restlos aus mir selbst hervorbringen. Ich erahne darin die schon immer angebahnte Geschichte Gottes mit uns Menschen. Von daher will ich darauf vertrauen: Auch in finsteren Zeiten werden uns immer wieder Chancen zu Veränderungen geschenkt und Neuanfänge eröffnet. Dann werden aus dunklen Stunden dennoch gesegnete Momente. Mit neuem Mut und neuem Vertrauen will ich das alte Jahr beschließen und ins neue Jahr starten.

Musiktitel 4 „Sanctus“ von Daniele di Bonaventura aus: Mistico Mediterraneo Label: ECM Records GmbH  LC 02516

Am Ende dieser Morgenfeier möchte ich eine junge Autorin zu Wort kommen lassen: Giannina Wedde. Eines ihrer Bücher, das ich zu Weihnachten geschenkt bekam, trägt den interessanten Titel „In deiner Weite lass mich Atem holen – Segensworte für die Lebensreise“.  Dort finde ich ihren Text: „Was enden muss“. Und er ist für mich ein gutes Schlusswort auch für das bald zu Ende gehende Jahr. Sie schreibt dort unter anderem:

„Du weißt, dass manche Kapitel enden. Es ist ihre Bestimmung, Raum zu lassen für das, was kommt. Vielleicht hängt dein Herz noch an (alten) Kapiteln. Vielleicht wünschst Du, sie mögen nie enden. Aber so, wie sich jede Frage nach einer Antwort sehnt, so sehnt sich jede Wirklichkeit nach mehr Weite und jede Erkenntnis nach tiefer Erfahrung. Was enden muss, braucht Deinen und Gottes Segen. Braucht deinen Abschied und deinen Mut, auch wegloses Land zu betreten. Erinnere dich, dass alles, was du heute denkst, einmal undenkbar war. Alles, was war, ist aufgehoben: in dir selbst, der Du ein werdender Mensch bist, und in den Kapiteln Deines Lebens, die noch geschrieben werden sollen. Halte also nichts zurück, was dich ermuntert, ein anderer Mensch zu sein als der, der du gestern warst.“

Soweit dieses Zitat von Giannina Wedde. Für mich stecken in diesen Zeilen realistische Ratschläge für den bevorstehenden Jahreswechsel.

Halte nichts zurück, was dich ermuntert, ein anderer und besserer Mensch zu sein als der, der du gestern warst!  Ein gutes Motto für die aufrichtige und dankbare Überprüfung meines vergangenen Jahres. Aber auch eine wichtige Einladung für mich, zumindest dort ein wenig Zuversicht und Licht zu verströmen, wo finstere Zeiten drohen. Ich wünsche Ihnen ein gutes Jahresende. Alles Gute und Gottes Segen für 2020.

Musiktitel 5: „Bewahre uns Gott“ aus: Liebe, die bleibt. Gesänge für die Liturgie, Schola Kleine Kirche Osnabrück, Label: Mirasound 88918-2

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