Ihr Suchbegriff
Das Kreuz ist nicht das Ende deines Weges

Das Kreuz ist nicht das Ende deines Weges

Martin Vorländer
Ein Beitrag von Martin Vorländer, Evangelischer Pfarrer und Senderbeauftragter für den DLF, Frankfurt

Gottesdienstübertragung aus der evangelischen Dreikönigskirche Frankfurt-Sachsenhausen

Predigt Teil 1

Liebe Gemeinde!

„Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“, sagt der Hauptmann, der Jesus am Kreuz sterben sieht. Wie kommt der dazu, so etwas zu sagen? Was für ein Gott soll das sein, der seinen Sohn so sterben lässt? Kein menschlicher Vater würde tatenlos zusehen, wie sein Kind zugrunde geht. Doch Gott greift nicht ein. Jesus schreit am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Auch die Menschen verlassen Jesus, einer nach dem anderen. Seine Jünger laufen davon, als die Männer mit Schwertern und Stangen Jesus im Garten Gethsemane verhaften und davon schleppen. Die Soldaten zerren ihn vor Gericht. Kein Mensch verteidigt ihn. Sie bespucken und schlagen ihn. Sie nehmen ihm alles weg bis aufs letzte Hemd und nageln ihn ans Kreuz.

Und auch noch am Kreuz verspotten sie ihn: Du willst doch der Christus sein, der Messias, der alle erlösen kann. Dann zeig doch deine Macht und steig vom Kreuz! Doch Jesus am Kreuz zeigt keine Macht. Jedenfalls keine, wie wir sie gewohnt sind. Und es kommt auch keine Rettung vom Himmel. Am Kreuz hängt ein elender, gebrochener, leidender Mensch, der einsam stirbt. Keiner ist da, der ihn hält. Sogar sein Glaube an Gott, den er Vater nennt, bricht am Kreuz zusammen. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Und von dem, der am Kreuz hängt, sagt der Hauptmann: „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“ Der Hauptmann scheint etwas zu sehen, was sonst keiner der Leute unterm Kreuz wahrgenommen hat. In diesem Menschen am Kreuz ist Gott selbst. Gott ist in dem Menschen, der leidet. Gott ist in dem Menschen, der stirbt. Das heißt dann auch, so hoffe ich: Wenn ich einmal sterbe, ist Gott bei mir. Es gibt keinen gottlosen Tod.

Wenn ich einmal soll scheiden, so scheidet Gott nicht von mir. Wenn ich den Tod soll leiden, so tritt Gott hervor. Und wenn mir im Herzen am allerbängsten ist, dann reißt Gott mich aus meiner Angst. Der dritte Teil der Solo-Kantate von Dietrich Buxtehude, die wir jetzt hören, besingt das so: „Warum sollt mir denn grauen vor Hölle, Tod und Sünd? Weil ich auf dich tu bauen, bin ich ein selig Kind.“

Predigt Teil 2

In der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, gibt es viele Kreuzwege. Ein Kreuzweg, das ist ein Wanderweg, der meistens einen Hügel hinaufführt. Am Wegrand stehen 14 Stationen mit Bildtafeln. Jedes Bild zeigt eine Szene, wie Jesus das Kreuz auf den Schultern trägt und den Weg nach Golgatha hinauf zu seiner Hinrichtungsstätte geht. Am Ende des Weges steht oft eine kleine Kapelle oder Kirche. Wenn unsere Eltern mit uns Kindern einen Ausflug gemacht haben, dann kamen wir manchmal an solchen Kreuzwegen vorbei.

Wir sind den Erwachsenen vorausgelaufen, um als erste an der nächsten Station zu sein. Da haben wir geschaut und versucht zu erkennen, was das Bild zeigt. Wir haben Mutter und Vater gefragt: „Wer ist der Mann, vor dem Jesus da steht, und wer sind all die Leute?“ – „Das ist Pilatus, der die Leute fragt, ob er Jesus frei geben soll. Aber die Leute rufen: Kreuzige ihn!“ – „Warum sind die Menschen so böse?“ Doch die Frage bleibt offen. Die anderen Kinder sind schon weitergerannt zur nächsten Station, und man selbst läuft schnell hinterher.

Für mich als Kind waren das Bilder und Geschichten, wie Jesus gelitten hat und am Kreuz gestorben ist. Je älter ich werde, desto öfter merke ich: Die Bilder von Jesu Kreuzweg zeigen das Leben. Sie zeigen, wie Menschen sein können. Der Karfreitag zeigt, wie Jesus verspottet und geschlagen wird, mit einer Dornenkrone auf dem Kopf ans Kreuz genagelt wird. Und in mir steigen Bilder auf, was Menschen heute anderen antun. Fanatiker, Schlägertrupps, Terroristen, die Brandsätze oder Bomben werfen, blindwütig auf andere Menschen schießen. Gewaltherrscher, die willkürlich Todesurteile verhängen. Menschenmengen, die sich aufhetzen lassen und andere bluten sehen wollen.

Ich höre an Karfreitag, wie Jesus am Kreuz gelitten hat. Das ruft die Bilder wach, wie grausam das ganz normale Leben sein kann. Menschen, die nachtreten, obwohl der andere schon am Boden liegt. Man beteuert einander „Wir halten zusammen. Ich bleibe bei dir. Da kann kommen, was will“. Und dann kommt es doch anders. Ich verschlafe oder verpasse, wo der andere mich braucht. Plötzlich merke ich erschrocken, dass ich mein Versprechen nicht gehalten und den anderen allein gelassen habe.

Ich höre an Karfreitag, wie Jesus am Kreuz gelitten hat, und ich denke an die Menschen, die ich habe leiden und sterben sehen. Manche hochbetagt, andere noch jung. Der Tod macht keinen Unterschied. Ich höre an Karfreitag, wie die Mutter von Jesus, Maria, zuschauen musste, wie ihr Sohn am Kreuz stirbt. Und ich denke an die Eltern, die heute zusehen müssen, wie ihr Kind leidet, und nichts tun können, außer vielleicht es im Arm zu halten.

„Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“, sagt der Hauptmann, der Jesus sterben sieht. In diesem Menschen am Kreuz ist Gott. Gott ist bei denen, die leiden. Das Kreuz ist nicht das Ende. Kreuzwege führen aufwärts. Davon hören wir nach der Sarabande für Violoncello von Johann Sebastian Bach.

Predigt Teil 3

Der Kreuzweg Jesu rührt an unsere Fähigkeit, mitleiden zu können, wenn einer leidet, spüren zu können, welches Unrecht einem Menschen angetan wird, welches Kreuz er oder sie zu tragen hat. Jesus am Kreuz öffnet den Blick dafür: Gott ist bei denen, die leiden. Der Karfreitag lässt merken, wie zerbrechlich das Leben ist. Aber Gott bleibt nicht beim Leiden stehen. Das Kreuz ist nicht das Ende unseres Weges.

Kreuzwege führen den Hügel aufwärts. Sie führen nach oben. Und sie haben ein Ziel: eine kleine Kapelle oder eine Kirche. Das Kreuz ist kein Schlussstrich unter Jesu Weg. Wenn seine Geschichte an der Schädelstätte Golgatha zu Ende gewesen wäre, dann wären sein Leiden und sein Tod nur grausam geblieben. Aber Jesu Weg führt weiter. Über das Kreuz hinaus. Über den Tod hinaus in den Morgen der Auferstehung.

Die Bibel erzählt: „Jesus schrie laut und verschied. Und der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben bis unten aus.“ Der Vorhang im Tempel damals in Jerusalem trennte den allerheiligsten Bereich ab, den kein Mensch sehen durfte. Draußen vor der Stadt auf dem Hügel Golgatha stirbt Jesus am Kreuz. Drinnen in der Stadt zerreißt der Vorhang zum Allerheiligsten. Nichts soll mehr sein zwischen Gott und Mensch.

Gott hebt die Trennung zwischen sich und uns auf. Er überschreitet die Grenze zwischen Leben und Tod. In Jesus Christus am Kreuz ist Gott ganz bei uns. Er teilt unser Leben. Er stirbt unseren Tod. Gott ist besonders dann nahe, wenn wir leiden, wenn wir unten sind. Und er führt uns durch den Tod hinauf ins Leben. In das Leben, über das der Tod keine Macht mehr hat. Kreuzwege führen nach oben. Gott ist uns nahe an den Höhepunkten, wenn wir großes Glück erleben und ahnen: Das Leben ist größer als alles.
Amen.

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren