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Wahre Helden sind verletzlich
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Wahre Helden sind verletzlich

Prof. Dr. Gerhard Stanke
Ein Beitrag von Prof. Dr. Gerhard Stanke, Domkapitular
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In der Nibelungensage wird erzählt, dass der Held Siegfried im Drachenblut badet, um unverletzlich zu sein. Seine Haut ist dann wie ein Panzer, der ihn vor Angriffen schützt. Aber als Siegfried im Drachenblut badet, ist eine kleine Stelle seines Körpers mit einem Lindenblatt bedeckt. Dort kommt das Drachenblut nicht hin. An dieser Stelle ist er verwundbar. Und da wird er später auch tödlich getroffen.

Ein Wunschtraum des Menschen ist es, unverletzlich zu sein. Aber es gibt vieles auf der Welt, was uns verletzt: absichtlich oder unabsichtlich. Und das sind nicht nur Waffen oder andere Gegenstände. Es muss nicht rohe Gewalt sein, die uns bedroht. Es gibt auch versteckte Formen. Auch Worte können tief verletzen. Auch Viren und Bakterien können sich in uns festsetzen und Körperfunktionen lahmlegen.

Fakt ist: Wir Menschen sind verletzlich – in vielfacher Weise.

Und Fakt ist auch: Viele Menschen möchten gern unverletzlich sein. Immun. Sich immunisieren gegen Bedrohungen. Aber das gelingt nicht ganz. Und in der Nibelungensage ist es das Lindenblatt, das die verletzliche Stelle des Helden Siegfried markiert. Der Mensch bleibt verletzlich und angreifbar.

Es wäre zwar schön, wenn wir gegen Viren immun wären – aber, dass wir verletzlich sind, hat auch gute Seiten. In einem Panzer zu leben, macht einsam. Wer einem solchen Menschen begegnet, weiß nicht, wer wirklich im Panzer steckt. Er weiß nicht, woran er mit diesem Menschen ist. Wer aus sich herausgeht, macht sich angreifbar – aber er zeigt auch wer er ist. Wer perfekt erscheinen will, wer seine Schwächen verbirgt, wirkt aalglatt und unnahbar. Andererseits kann ein Mensch auch nur dann erfahren, dass er wirklich angenommen ist, wenn er sich zeigt wie er ist. Wenn er seine Schwächen verbirgt, wird er nicht erleben, dass er auch mit seinen Schwachstellen angenommen ist. Und letztlich – so glaube ich – wünscht sich jeder, ganz das heißt auch mit seinen negativen Seiten angenommen zu werden. Schwächen zu zeigen, macht menschlich.

Das gilt nicht nur für uns Menschen. Es gilt auch für Gott. In Jesus ist Gott gleichsam aus sich herausgegangen und hat gezeigt wer er ist. Er wurde sichtbar, greifbar und auch angreifbar. Und verletzlich. Jesus hat sich den Händen der Menschen ausgeliefert – als Kind am Beginn seines Lebens und am Ende als Gefangener, Gefolterter und Gekreuzigter. Er hat sich verletzlich gemacht und dabei kam sein innerstes Wesen zum Vorschein. Im ersten Johannesbrief des Neuen Testamentes heißt es kurz und knapp: „Gott ist die Liebe.“ (1 Joh 4,8). Und die Liebe ist verletzlich.

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