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Es grünt so grün
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Es grünt so grün

Andrea Wöllenstein
Ein Beitrag von Andrea Wöllenstein, Evangelische Pfarrerin, Marburg
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Wenn ich aus dem Urlaub nach Hause komme, freue ich mich immer wieder auf unser schönes Hessenland. Ich bin auch gerne in den Alpen. Ich genieße die Aussicht auf graue Felswände und schneebedeckte Gipfel. Ich mag das blaue Meer und den hellen Strand. Doch ich freue mich jedes Mal, wenn ich wieder eintauchen kann in das Grün unserer Wälder und Wiesen. Das bestaunen auch oft unsere Gäste: „We love your green country“, schrieb eine Besucherin aus unserer Partnerkirche in Südafrika in unser Gästebuch. Und Freunde aus Litauen, die im Mai zu Gast waren, konnten nicht genug staunen über die Vielfalt der Grüntöne, die sie bei uns entdeckt haben.

Als wir in diesem Jahr aus den Ferien nach Hause gekommen sind, war es anders. Nach den hochsommerlichen Temperaturen schon im Mai und der langen Trockenperiode der vergangenen Wochen ist alles früher als sonst. Das Getreide ist reif. Die Raine an den Straßen sind gelb und vertrocknet. An manchen Bäumen fangen schon die Blätter an, sich herbstlich zu färben. Viele klagen über die Hitze und mancher fragt sich: Ist das einfach ein trockenes Jahr, wie es immer wieder einmal vorkommt - oder doch ein Zeichen, dass sich das Klima verändert? Eine Aufforderung an uns, genauer hinzuschauen. Auf die Natur zu achten. Unseren Lebensraum besser wahrzunehmen und zu schützen.
Ich möchte Sie, lieber Hörerinnen und Hörer, heute Morgen einladen zu drei kleinen Ausflügen ins Grüne. Grün ist die Farbe des Lebens. Während es sich im Frühling in vielen hellen, zarten Tönen zeigt, hat das Grün im Sommer einen satten, vollen Ton. Nach dem 1.Schnitt ist das Grün der Wiesen dunkler. Auch die Wälder wiegen sich im dunklen Grün, und in der Feldflur sind andere Farben hinzugekommen: Das Gelb der Korn- und Stoppelfelder, das Braun der umgepflügten Äcker.
Auch die Kirchenfarbe ist im Sommer grün. Grüne Behänge schmücken bis zum 1.Advent Kanzel und Altar in den evangelischen und katholischen Kirchen.
Farbspychologische Untersuchungen zeigen, dass Grün eine harmonisierende Wirkung hat. Die meisten Versuchspersonen erleben Grün als beruhigend, sanft und freundlich. Es ist erfrischend und friedvoll. „Es gibt nichts Wohltuenderes als die Farbe Grün, weil sie in das Auge einfließt mit einer milden Fülle, die nicht bloß ruhig lässt, sondern positiv beruhigt,“ schreibt ein Farbpsychologe. (Köstlin nach Ingrid Riedel, Farben, Seite 101)

Kaum einer anderen Farbe kommen so viele positive Bedeutungen zu. Frisch und grün gehören zusammen wie alt und grau.
Grün ist die Hoffnung, weil sie verwandt ist mit der Erfahrung des Frühlings: Hoffnung keimt wie die Saat im Frühling. Es gibt viele Redewendungen, die sich um die Farbe Grün ranken. „Das ist im grünen Bereich“, sagen wir, wenn etwas in Ordnung ist. „Je dürrer die Zeit, desto grüner die Hoffnung“, weiß ein altes Sprichwort. Was grün ist, wächst. Darum - wer auf einen grünen Zweig kommen will, sollte auf die grüne Karte setzen!

Musik: Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 6 F-Dur, 1. Satz

Auch in der biblischen Bildersprache ist grün ein Synonym für Lebendigkeit. Grün steht für die Schöpfung, ist Zeichen für das Leben schlechthin. Unser erster Ausflug ins Grüne führt uns in die Schöpfungsgeschichte der Bibel. Nachdem Gott das Licht von der Finsternis und das Wasser vom Land getrennt hatte, sprach er am dritten Tag: „Aufgrünen lasse die Erde Grünes, nämlich Kraut, das Samen bringt nach seinen Arten und Fruchtbäume, die Früchte tragen nach ihrer Art, in denen Samen ist auf Erden. Und so geschah es. So brachte die Erde Grün hervor, Kraut, das Samen bringt nach seiner Art und Bäume, die Früchte tragen, in denen Samen ist, nach ihrer Art; und Gott sah, dass es gut war. (Übersetzung Gerhard von Rad)

Was für eine Freude für den Schöpfer - zu sehen, wie sich aus dem Gelb der Sonne und aus dem Blau des Meeres Grünes entfaltet! Wie sich die Farben mischen in allen Facetten und Schattierungen: Moosgrün, tannengrün, maigrün, lindgrün … Das kleine Blatt und der große Baum, der zarte Halm und der kräftige Kohl.

Eine Freude, wie auch wir sie Jahr für Jahr erleben: Wenn im Frühling das Grün aus der Erde kommt. Wenn Knospen aus kahlen Ästen aufbrechen und die Welt verwandelt wird vom kargen Braun-Grau in üppiges Grün-Bunt. Eine Augenweide war das auch in diesem Jahr in den warmen Wochen des Frühlings. Geradezu explodiert ist das Grün durch Regen und Sonne. Früher und reicher als in anderen Jahren. Verschwenderische, unbändige Lust am Grünen.

Die mittelalterliche Mystikerin Hildegard von Bingen hat das Grün darum ins Zentrum ihres theologischen und medizinischen Denkens gestellt. Ich zitiere:
O Grün des Fingers Gottes
Kein Baum grünt ohne Kraft zum Grünen,
kein Stein entbehrt der grünen Feuchtigkeit,
kein Geschöpf ist ohne diese besondere Eigenschaft,
die lebendige Ewigkeit selber ist nicht ohne die Kraft zum Grünen. ..

Hildegard sieht den ganzen Kosmos durchzogen von der „Sancta Viriditas“, der „Heiligen Grünkraft“. Dieses heilige Grün ist in den Pflanzen, und es wirkt im Körper und in der Seele des Menschen. Alles ist von dieser Kraft durchströmt. Sie sagt:

Es gibt eine Kraft aus der Ewigkeit und diese Kraft ist grün.
Aus lichtem Grün sind Himmel und Erde geschaffen und alle Schönheit der Welt.

Diese Vorstellung setzt sie um in Rezepten mit Kräutern, Pflanzen und Edelsteinen. Und wenn der Körper müde ist und die Seele matt, dann rät sie: Soll man „sich auf einer Wiese ausstrecken und sich vorstellen, dass die Säfte und Kräfte aus den Wurzeln der Gräser und Kräuter den eigenen Körper beleben.“

Eine Idee vielleicht für den Sonntagnachmittag im eigenen Garten oder im Park auf einer Wiese! Das Grün sehen, es fühlen, riechen und schmecken. Die Grünkraft einladen, dass sie uns belebt und stärkt! Ich habe das ausprobiert. Was für ein schönes Gefühl, im Gras zu liegen! Den Blick nach oben in den weiten Himmel über mir. Den Duft nach frischem Gras in der Nase. Die kühle Erde fühlen und Grashalme, die mich kitzeln. Grünkraft einatmen und sie beim Ausatmen mit einem Impuls in alle Zellen des Körpers schicken.

Musik: Robert Schumann, Erstes Grün

Der zweite Ausflug ins Grüne führt uns in die Bilderwelt der Psalmen. Einer der bekanntesten „Grün-Texte“ der Bibel steht im 23. Psalm. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.“ (Psalm 23,2) Die grüne Aue und das frische Wasser - das ist der Inbegriff des Guten, das, was nährt, erfrischt und stärkt. Und das Beste daran: Wir sind schon da! Es heißt nicht: Irgendwann, wenn ihr alle brav gewesen seid, dann kommt ihr auf die grüne Aue. Nein! Wir sind schon mitten drin! „Er weidet mich auf einer grünen Aue“. Ich muss nur die Augen aufmachen und sehen, wie freundlich unser Gott ist. Das, was wir brauchen zum Leben, ist da wie das Grün, das uns in der Natur so reichlich umgibt.

Der Psalm fordert an keiner einzigen Stelle dazu auf, etwas zu tun. Anderen den Tisch decken zum Beispiel oder eine gute Hirtin sein. Sondern es heißt: „Er erquicket meine Seele“. „Er führet mich auf rechter Straße“. „Dein Stecken und Stab trösten mich“. „Du bereitest vor mir einen Tisch, du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein“. Es geht nur um eins: Um das, was ich brauche, um zu grünen. Und das hält Gott für mich bereit. Ich darf es nehmen und genießen. Schauen, mich führen lassen, getröstet werden, bleiben - immerdar.

So mit Gutem gesättigt kann das Herz gar nicht anders, als selber zu grünen und zu blühen. Wie wir es im Advent singen: „Mein Herze soll dir grünen in stetem Lob und Preis, und deinem Namen dienen, so gut es kann und weiß.“ (EG 11,2)
Ich erinnere mich an die Worte einer Physiotherapeutin, die ich bei einem Kuraufenthalt kennengelernt habe. Wir hatten eine Gesprächsrunde unter Frauen und sie sagte: „Ihr alle gebt so viel in eurem Alltag. Jetzt ist eure wichtigste Aufgabe: Nehmen, nehmen, nehmen“. Sie hat das immer wieder gesagt, wenn sie mit ihren kräftigen Händen und einem duftemden Öl meinen Rücken geknetet hat: „Nehmen, nehmen, nehmen“. Weil das gar nicht so leicht ist: Mit gutem Gewissen nehmen, an mich und nur an mich denken. Der Familie sagen: Heute seid ihr dran mit Einkaufen und Kochen. Ich gehe eine Runde spazieren. In den Kalender schreiben: Kino mit der Freundin. Zeit für mich. Manche musste das in der Kur erst neu lernen.

Musik: Joseph Haydn, „Nun beut die Flur das frische Grün“ aus „Die Schöpfung“

Der dritte Ausflug ins Grüne führt in meinen Garten. „Grünes, nämlich Kraut, das Samen bringt“…  Genau wie es im Schöpfungsbericht der Bibel steht, so ist es auch in meinem Garten. Und dieses Grüne wächst und wächst. Breitet sich aus, auch an Stellen, an denen ich es gar nicht haben möchte. Manchmal ist das eine Freude. Wenn eine rote Mohnblume aufgeht, die ich nicht gesät habe. Oder wenn im Frühling alles blau leuchtet von wilden Vergissmeinnicht. Aber nicht alle Kräuter erfreuen uns gleichermaßen. Wer einen Garten hat, weiß, wovon ich spreche. Giersch zum Beispiel oder Brennnesseln. Über lange Zeit waren sie meine Lieblingsfeinde. Ich habe sie gehackt, gejätet, die Erde durchgesiebt, um ihre feinen Wuzeln zu erwischen. Ich habe die Gärten gewechselt durch mehrere Umzüge. Aber sie waren immer schon vor mir da. Unverwüstlich, nicht weg zu kriegen.

Von einer Frau, die Kräuterführungen anbietet und Kräuterfrauen ausbildet, weiß ich inzwischen: Sie sind nicht nur unverwüstlich, sondern auch reinigend und stärkend. Ein grüner Schatz. Sie sagt: „Wenn uns der liebe Gott nur die Brennnessel geschenkt hätte, es wäre alles da, was wir brauchen.“ Brennnesseln reinigen, sie wirken entgiftend und entschlacken. Sie enthalten viele Mineralstoffe und öffnen die Zellen für die Aufnahme von Eisen. Und Giersch, so meine Kräuterfrau, ist der kleine Bruder der Brennnessel, genauso gesund und reinigend.

Und noch einen Satz hat sie gesagt, den ich mir gemerkt habe: „Was man im Garten nicht ausrotten kann, das muss man essen.“ Ich muss gestehen, es hat mich etwas Überwindung gekostet, bevor ich zum ersten Mal Giersch gegessen habe… Und ein grasgrüner Kräuter-smoothie, den ich mir seitdem manchmal mixe, ist durchaus auch gewöhnungsbedürftig… Aber ich habe gemerkt: Mein Gartenfeind Nummer 1 schmeckt gar nicht so schlecht. In der Salatsoße oder in Kräuterbutter versteckt, geht es sogar noch besser.

Der Satz meiner Kräuterfrau geht mir nach: „Was man im Garten nicht ausrotten kann, das muss man essen.“ Oder anders gesagt: „Was du nicht loswirst, damit musst du dich anfreunden.“ Das passt nicht nur für den Garten, das gilt auch fürs Leben. Was ich nicht loswerde ….Die lauten Nachbarn, die nervige Tante, Tätigkeiten an meinem Arbeitsplatz, die mir nicht schmecken. Wenn ich sie nicht loswerden kann, muss mich damit arrangieren. Meinen Weg finden, damit zurechtzukommen. Auch mit manchem an mir selber. Seiten, die mich stören, aber die irgendwie zu mir gehören. Manch einer ist temperamentvoll, redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Manchmal – ohne zu überlegen – auch Dinge, die andere verletzten. Eine andere ist still und zurückhaltend, überlegt drei Mal, bevor sie etwas sagt und ärgert sich dann, dass ihre Ideen und Gedanken so wenig vorkommen. Ich kann an mir arbeiten. Ich kann mich verändern bis zu einem gewissen Grad. Aber nur, wenn ich mich annehme, so wie ich bin. „Was man im Garten nicht ausrotten kann, das muss man essen.“ „Essen“ ist mehr als nur etwas zu denken. Es geht auch im übertragenen Sinne um Verdauen, um Verarbeiten und Integrieren von dem, woran ich zu knabbern habe.

Musik: Robert Schumann, Blumenstück Des-Dur op. 19

Im letzten Sommer habe ich die Kräuterfrau in ihrem Garten besucht. Wer nun denkt, dass da überall Giersch und Brennnesseln wuchern, hat sich getäuscht. Alles ist wunderbar angelegt. Beete mit Kräutern und Blumen, eins schöner als das andere. Und daneben doch auch ein paar andere Stellen mit Brennnesseln, Giersch und anderem Grünzeug. „Du musst dir eine wilde Ecke im Garten lassen, wo alles wachsen darf“, hat sie gesagt. „Und die darf nicht zu weit von deiner Küche entfernt sein, damit du einfach rausgehen und holen kannst, was du brauchst.“

Auch das wieder so ein Satz fürs Leben: „Du musst dir eine wilde Ecke lassen“ … auch im wohl geordneten Lebensalltag. Nicht so weit weg wie der nächste große Urlaub, sondern nah dran, dass du schnell mal reinhuschen kannst, um zu holen, was du brauchst. Einen Moment Pause. Ein Gang in den Wald oder in den Garten. Ein Stück Torte mitten in der Woche, einen Abend mit der Freundin chillen. Tanzen gehen, etwas Verrücktes machen. Mit nackten Füßen durch einen Bach waten, ein quietschgrünes T-Shirt kaufen, den roten Sommerhut aufsetzen. Seinlassen, was wachsen will, ohne es gleich mit der Heckenschere zu stutzen.

Eine wilde Ecke. Auch in der Kirche. Wie wäre das? Nicht so weit weg wie der nächste Kirchentag. Sondern immer mal wieder. Eine frische Brise, die uns heiter macht und  inspiriert. Die uns daran erinnert, dass wir nicht nur Geschöpfe, sondern Mitschöpferinnen und Mitschöpfer sind. Und die brauchen etwas Tohuwabohu, wie die Bibel es am Anfang des Schöpfungsberichtes sagt. Oder mit Friedrich Nietzsche: „Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern zu gebären.“

Musik: Wolfgang Amadeus Mozart, Sinfonie Nr. 39 Es-Dur, 4. Satz, Allegro

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