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Schleusenzeit
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Schleusenzeit

Dr. Peter Kristen
Ein Beitrag von Dr. Peter Kristen, Evangelischer Pfarrer und Studienleiter, Religionspädagogisches Institut Darmstadt
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Als Tageschausprecherin ist sie bekannt geworden. Dann hat sie den Sender gewechselt und schreibt inzwischen erfolgreich Bücher: Linda Zervakis. Am Anfang ihres neuen Buches "Landgang" beschreibt sie, was viele erleben, wenn ein Mensch gestorben ist, der ihnen nahestand. Sie schreibt: "Seit dem Tod meiner Mutter lebe ich in einem Vakuum. Nichts fließt mehr. Außer immer mal wieder stoßweise meine Tränen. Schleusenzeit, sagt meine Freundin. Besondere Zeit. Schleusenzeit. Lebe sie. Ist wichtig."

Tränen und Trauer

Eine Schleusenkammer voll Tränen: Linda Zervakis‘ findet ein eindrückliches Bild für die Trauer. Psychologinnen und Seelsorger haben den Weg der Trauer beschrieben. Dort warten Aufgaben, die Trauernde nach und nach vor sich sehen.

Der erste Schritt der Trauer

Der erste Schritt heißt schlicht Weiterleben. Da ist es gut, jemanden an der Seite zu haben, der Beistand leistet. Nur dabeistehen, oft ohne ein Wort, das ist eine große Hilfe. Wie gut, dass Linda Zervakis ihre Freundin hat. Sie sagt: "Meine Freundin holt mich immer wieder raus. Gestern waren wir in der Stadt, was besorgen. … Das Draußen erschöpft mich. Doch es tut mir auch gut."

Der zweite Schritt

Der zweite Schritt ist wahrnehmen: Das Leben eines Menschen, der mir lieb war, ist wirklich zu Ende – unwiederbringlich. Linda Zervakis sagt es so: „Nutzt nichts. Ist vorbei. Aus. Punkt. Jetzt ist jetzt. Sie war gestern. Ich bin heute. Ohne sie.“ 

Der dritte Schritt

Die Schleuse voller Tränen ist erst der dritte Schritt. Sie kann sich erst füllen, wenn Trauernde wieder Kontakt zu ihren Gefühlen haben: Trauer, Wut, Angst, Schmerz. Menschen suchen Verstorbene manchmal noch an bekannten Orten oder in ihrer Erinnerung: Aber wir wollten doch noch. Aber ich habe noch Fragen. Dann beginnen sie aber langsam, sich von ihnen zu trennen und sich der Welt wieder zuzuwenden. 

Der vierte Schritt

Zervakis sieht diesen vierten Schritt für sich so: „Ich arbeite wieder ein wenig. Und ich bin überrascht, dass ich zusammenhängende Texte schreiben kann.“ Menschen gehen die Schritte unterschiedlich schnell oder langsam. Viele erzählen, dass sie nach mehr als einem Jahr zu einem neuen Verhältnis zur Welt und zu sich selbst finden. Linda Zervakis hat eine Trauerrede für ihre Mutter geschrieben und dann ein locker-fröhliches Buch. Ich vermute, sie wird jetzt auch den letzten Schritt auf dem Weg der Trauer gehen und ihrem Verlust Sinn und Bedeutung geben.

Quelle: Linda Zervakis, Landgang 2023, S. 9-12
 

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