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Die eigene Nase sehen
Bild: Petra/Pixabay

Die eigene Nase sehen

André Lemmer
Ein Beitrag von André Lemmer, Katholischer Pfarrer in der Pfarrei Sankt Elisabeth in Kassel
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Eigentlich sehen wir sie permanent, weil sie ja direkt in unserem Blickfeld liegt. Und doch fällt sie uns kaum auf: die eigene Nase. Erst wenn wir uns auf sie konzentrieren, fällt sie auf, auch wenn wir nicht schielen.

Ich finde es bemerkenswert, dass unser Gehirn so etwas automatisch macht. Ich habe mich nie bewusst dazu entschieden, meine Nase zu ignorieren. Klar ist es auch besser, die eigene Nase nicht ständig zu sehen, aber spannend ist es allemal, dass dies so unterbewusst geschieht.

Eigentlich glasklar und trotzdem verdeckt – wenn man das Offensichtliche übersieht

Wenn ich solche Fakten lese oder höre, muss ich nicht nur schmunzeln. Manchmal werde ich dann auch nachdenklich – wie in diesem Fall. Wenn es nämlich nicht immer einer bewussten Entscheidung bedarf, um etwas zu auszublenden, kann das ja auch bei anderen Dingen so passieren. Ich meine jetzt nicht nur Körperteile, sondern eher Menschen, Begebenheiten oder Tatsachen. Kann es sein, dass ich unterbewusst in meinem Leben etwas ausblende, es aber für andere klar sichtbar und verständlich ist? Und wenn ja, wie kann ich es verhindern?

Mir ist seit einigen Jahren lieb und teuer geworden, dass ich am Abend kurz vor dem Schlafen meinen Tag in ein Gebet packe. Ich erzähle Gott alles das, was mir passiert ist. Gott war sicher dabei, aber mir ist es wichtig, es selbst noch einmal vor ihn zu bringen. Diese Reflexion im Gebet ist eigentlich die bewusste Konzentration auf das Offensichtliche. Genau genommen ist es wie mit meiner eigenen Nase. Wenn ich mich bewusst konzentriere, kann ich sie wahrnehmen. Dann fallen mir manche Begegnungen oder Situationen ein, die ich noch einmal neu bewerten kann. Vielleicht muss ich dann am kommenden Tag etwas geraderücken. Meistens aber verstehe ich mich selbst ein bisschen besser. Und immer spüre ich, dass es mir guttut. Denn mit Gott mein Sichtfeld zu weiten, bringt mir die Gewissheit nicht allzu viel zu übersehen, was ich für selbstverständlich halte. Das lässt mich dankbar werden für die kleinen Dinge im Leben. Die Dinge, die immer da sind und mir so nah sind, dass ich sie den ganzen Tag nicht sehe. Weil sie so dicht an mir sind wie meine Nase.

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