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Sehnsucht bewegt
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Sehnsucht bewegt

Stephanie Rieth
Ein Beitrag von Stephanie Rieth, Bevollmächtigte des Generalvikars und Dezernentin im Bistum Mainz
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Kind bleibt man ein Leben lang – das merke ich immer ganz besonders an Weihnachten. Vor 29 Jahren bin ich bei meinen Eltern ausgezogen, ich habe eine eigene Familie. Trotzdem – seit 29 Jahren fahren wir an jedem zweiten Weihnachtsfeiertag zu meinen Eltern - nach Hause, wie es mir manchmal dann rausrutscht. Auch heute sind wir wieder unterwegs, und ich bin schon voller Freude und Sehnsucht. Schließlich sehen wir uns nur einmal im Jahr alle miteinander - meine Eltern, meine fünf Geschwister und ich mit unseren Familien - zusammen sind wir 30 Personen. Ja, so ein Familienfest ist auch anstrengend, es ist laut, viele Eindrücke prasseln auf mich ein, es gibt gutes Essen und viele Gespräche, die kleinen Kinder meiner jüngeren Geschwister wuseln um uns herum, und abends sind alle platt. Und trotzdem: Ich freue mich auf dieses Familienfest und merke: Die Sehnsucht danach bewegt mich - im wahrsten Sinn des Wortes -, aufzubrechen. 

Sie treibt mich an...etwas zu verändern

„Wenn die Sehnsucht größer als die Angst ist, wird Mut geboren. Ohne Sehnsucht machen wir uns nicht auf den Weg!“, so formuliert es der Dichter Rainer Maria Rilke. Ja, das stimmt so auch für mich. Die Sehnsucht ist eine mächtige Triebkraft. Das spüre ich an den Weihnachtstagen ganz besonders. Wer verliebt ist, kennt das Gefühl. Wer einen Menschen verloren hat, ebenfalls. Aber manchmal sehnen wir uns auch nach einem Ort, an dem wir uns wohl fühlen, der für uns Heimat bedeutet, je mehr je näher wir ihm kommen. Oder nach einem vertrauten Ritual. Manchmal sehne ich mich auch danach, dass etwas ganz anders wird. Echte Sehnsucht lässt mich nicht in Ruhe, sie treibt mich an, mich auf den Weg zu machen, etwas zu verändern und nach einem tieferen Sinn zu streben. Und manchmal sehne ich mich sogar gleichzeitig nach gegensätzlichen Dingen: Ich sehne mich nach Ruhe und Trubel, nach Tiefe und Leichtigkeit. Und ja, es kommt auch vor, dass ich mich nach etwas sehne, das nicht in Erfüllung geht, weil es sich meinen Möglichkeiten entzieht. Die Sehnsucht nach dem Frieden in der Welt ist für mich so ein Beispiel dafür. 

Er will uns nahe sein und wird Mensch

Und dennoch: Sehnsucht setzt in Bewegung, und wie schön ist das, wenn meine Sehnsucht nicht ins Leere läuft, sondern mich in Kontakt bringt - mit anderen, mit mir selbst. 

Sehnsucht bewegt mich auf etwas hin, und sie braucht eine Antwort, dass sie nicht ins Leere läuft. Weihnachten ist genau genommen auch so eine Sehnsuchtsgeschichte. Mir gefällt der Gedanke, dass Gott sich nach uns Menschen gesehnt hat und sich auf den Weg gemacht hat, um in Jesus Mensch zu werden. Welch ein schöner Gedanke: Gottes Sehnsucht nach uns war so groß, dass er das Menschsein gewählt hat, um uns nahe zu sein. Es gibt einen alten Hymnus in der Bibel, ein Art Lied, das beschreibt das so: „Er (Jesus) war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich.“ (Brief an die Philipper 2,6-7) Sich entäußern, das bedeutet soviel wie: sich verschenken. Gott verschenkt sich an uns, er hat Sehnsucht nach uns, er will uns nahe sein und wird Mensch. Das zeigt sich im Kind in der Krippe. Was für uns gilt, gilt offenbar auch für Gott: Sehnsucht setzt in Bewegung. 

Sehnsucht bedeutet nie Stillstand und Wachstum

Die jüdische Dichterin Nelly Sachs hat diesen Gedanken von der Menschwerdung Gottes aus Sehnsucht in ein - wie ich finde - wunderschönes Gedicht gepackt:

„Alles beginnt mit der Sehnsucht,
immer ist im Herzen Raum für mehr,
für Schöneres, für Größeres.
Das ist des Menschen Größe und Not:
Sehnsucht nach Stille,
nach Freundschaft und Liebe.
Und wo Sehnsucht sich erfüllt,
dort bricht sie noch stärker auf.
Fing nicht auch Deine Menschwerdung, Gott,
mit dieser Sehnsucht nach dem Menschen an?
So lass nun unsere Sehnsucht
damit anfangen,
Dich zu suchen,
und lass sie damit enden,
Dich gefunden zu haben.“ 

Dieses Gedicht beschreibt eindrucksvoll, was Sehnsucht ausmacht: Sehnsucht schafft den Raum für mehr, und Sehnsucht kommt nie zum Ende: Wo Sehnsucht sich erfüllt, da bricht sie noch stärker auf - so sagt es Nelly Sachs. Ich kann das gut nachvollziehen und erlebe das oft so. Sehnsucht bedeutet nie Stillstand, immer Dynamik, Wachstum, Entwicklung und Veränderung. Und Sehnsucht hat immer ein Ziel: einen Menschen, einen Ort, den Sinn des Lebens. Wenn ich darüber nachdenke, dann klingt das auch ein bisschen anstrengend, und ja, das erlebe ich durchaus auch - wenn meine Sehnsucht mich ruhelos sein lässt, wenn sie mir aufgibt: etwas muss anders werden, damit es gut ist. 

Ein guter Weg durch die Höhen und Tiefen des Lebens  

Der Sehnsucht folgen, kann so auch harte Arbeit sein. Und sie hat manchmal eine ganz wichtige Begleiterin, die Angst. Und da bin ich wieder bei dem Wort von Rainer Maria Rilke: „Wenn die Sehnsucht größer als die Angst ist, wird Mut geboren. Ohne Sehnsucht machen wir uns nicht auf den Weg!“ 

Angst und Sehnsucht sind nicht nur in der Dichtkunst Geschwister. Die Dynamik, die Erkenntnis, die Notwendigkeit der Veränderung - das kann auch Angst machen. Und Angst kann uns vorsichtig machen, wenn wir unserer Sehnsucht folgen: nicht alles aufs Spiel zu setzen, geduldig zu sein, maßvoll zu sein. 

Zur Angst braucht es dann aber immer auch den Mut, der uns nicht vor Angst erstarren lässt, der uns Angst überwinden lässt und uns unserer Sehnsucht folgen lässt. Der Sehnsucht folgen, dabei mutig, aber auch behutsam und besonnen sein - im Umgang mit sich selbst und den Menschen um mich herum, das scheint mir ein guter Weg zu sein durch die Höhen und Tiefen des Lebens.  

Die heiligen drei Könige auf dem Weg

„Wenn die Sehnsucht größer als die Angst ist, wird Mut geboren. Ohne Sehnsucht machen wir uns nicht auf den Weg!“ Das sagt der Dichter Rainer Maria Rilke. Mir fallen dazu auch drei ganz besondere Akteure in der Weihnachtsgeschichte ein. Unter unserem Weihnachtsbaum stehen auch am Heiligen Abend immer schon die Figuren der Heiligen Drei Könige - noch nicht an der Krippe, aber auf dem Weg. Das Fest der Heiligen Drei Könige ist ja erst am 6. Januar. 

Für mich sind die drei Sterndeuter, wie sie in der Bibel genannt werden, solche Menschen, die das gut hinbekommen haben: Angst, Mut und Sehnsucht in Einklang zu bringen. Die drei Männer folgen einem Stern, der sie zu dem neugeborenen König bringen soll. Der neugeborene König steht für das ganz Neue, das mit der Geburt Jesu begonnen hat - für die Sehnsucht Gottes nach uns Menschen. Gott kommt in die Welt, er wird Mensch, um den Menschen nah zu sein.

Will meiner Sehnsucht auf den Grund gehen

Die Sehnsucht nach diesem ganz Neuen setzt die drei Sterndeuter in Bewegung. Sie begegnen dem König, Herodes, dem diese Nachricht von einem neugeborenen König gar nicht gefällt. Er will, dass ihm die drei Männer Informationen bringen, die er dann verwenden kann. Und das macht die drei vorsichtig. Sie spüren die Bedrohung und erweisen sich im Fortgang der Geschichte als wirklich weise. Am Ziel ihrer Reise, ihrer Sehnsucht angekommen, erkennen sie im Kind in der Krippe das ganz Neue, nämlich Gott in der Welt. Und sie kehren nicht zu Herodes zurück, sondern entziehen sich mutig und vorsichtig der Anweisung des Herodes und reisen erfüllt von der Begegnung an der Krippe in ihre Heimat zurück. 

Ich möchte mich mit den drei Weisen auf den Weg zur Krippe machen und meiner Sehnsucht folgen. Heute ist das der Besuch meiner Familie, das Zusammensein mit all den lieben Menschen, die zu mir gehören und die ich nur sehr selten sehe. Mich mit den drei Weisen auf den Weg zur Krippe zu machen, bedeutet auch: Ich will meiner Sehnsucht auf den Grund gehen, will mutig und besonnen Ausschau halten nach dem Neuen, das meinem Leben Sinn verleiht.

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