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„Denk‘ ich an Luther…“  Warum Erinnern sich lohnt
Bild: medio.tv / Dellit

„Denk‘ ich an Luther…“ Warum Erinnern sich lohnt

Karl Waldeck
Ein Beitrag von Karl Waldeck, Evangelischer Pfarrer, Kassel
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Morgen ist der 31. Oktober, der Reformationstag - in einigen Bundesländern ist er Feiertag. Der Reformationstag erinnert daran: Am 31. Oktober 1517, dem Vorabend des Allerheiligentages, hat der Wittenberger Augustinermönch und Hochschullehrer Martin Luther 95 Thesen veröffentlicht.

Der Thesenanschlag und seine Folgen

Wie er das tat, ist umstritten: Klassisch ist die Vermutung, Luther habe seine Thesen an die Tür der Wittenberg Schlosskirche genagelt – ein folgenreicher Kraftakt! Andere bezweifeln das. Unbestritten ist: Luthers Thesen wurden an diesem Tag als Druck veröffentlicht. Das hatte Folgen - kurz, mittel- und langfristig: Das Datum markiert den Beginn der Reformation – ein Prozess, an dessen Ende zwei Konfessionsfamilien stehen. Es gibt die römisch-katholische Kirche und die Kirchen der Reformation.

Ziel der 95 Thesen: Diskussion um Ablassbriefe

Das hatte Luther gewiss nicht im Blick; es war vor allem nicht sein Ziel, als er seine Thesen veröffentlichte. Luther ging es vielmehr um eine Diskussion über einen, wie er es sah, Missstand in der kirchlichen Praxis. Kirchenvertreter behaupteten damals, man könne sich durch das Kaufen sogenannter Ablassbriefe von seinen Sünden freikaufen. Dagegen wandte sich Luther in aller Schärfe, und darüber wollte er diskutieren – anhand seiner 95 Thesen. Sie waren auf Latein verfasst. Doch nur die wenigsten konnten in dieser Zeit lesen und nur Gelehrte den Inhalt der Thesen verstehen. 

Nur wenige Menschen haben alle 95 Thesen gelesen

Der Kreis der Adressaten und Leser war also bereits damals ziemlich exklusiv. 500 Jahre später dürfte es kaum anders sein: Ich bin mir sicher, dass sich auch heute nur die wenigsten Theologinnen und Theologen der Mühe unterzogen haben, alle 95 Thesen zu lesen. Das wundert nicht: Im Ganzen ist der Text – zumindest für heutige Verhältnisse – ziemlich lang. In manchen Passagen wirkt er ausgesprochen zeitgebunden. Was damals aktuell und geläufig war, wird heute nur teilweise verstanden. 

Musik: „Christ lag in Todesbanden“ - Bach Kantate BWV 4 Versus 3 

Warum soll man an Luther und an den Reformationstag erinnern? 

Warum also sollte man an Luther und an den Reformationstag erinnern? Zum Beispiel deshalb: Ich bin seit mehr als 30 Jahren Pfarrer einer Kirche, die sich ausdrücklich auf die Bekenntnisse der Reformation beruft, also auch auf Martin Luther und seine Theologie.

Luthers Bedeutung als Mensch und Theologe

Es ist deshalb gut, sich als evangelischer Theologe oder evangelische Theologin vor Augen zu führen, welche Bedeutung Luther für sie oder ihn hat. Es geht dabei sowohl um den Menschen und den Theologen Luther. Was kann er mir sagen, für mein Verhältnis zu Gott, meinen persönlichen Glauben?

Es geht zudem beim Erinnern am Reformationstag um ein bis heute für die Kirche prägendes geistiges Erbe, um Luthers Denken, Reden, seine Schriften und seine Persönlichkeit.

Luther beeindruckt auch Menschen, die seine Lehre nicht kennen

Tatsächlich fällt es schwer, von Luthers Lehre zu sprechen, ohne an seine Person zu denken. Es ist vielmehr so: Manche Menschen haben, ohne einen einzigen Text von Luther zu kennen, durchaus ein lebendiges Bild von ihm: vom jungen Mann, dem Studenten, der vom Unwetter überrascht, gelobt Mönch zu werden – zum Unwillen seiner Eltern, die anderes mit ihm vorhatten. Sie sehen in Luther einen Mann, der für Meinungsfreiheit einsteht und seine Standpunkte, Einsichten und Überzeugungen offensiv vertritt – vor Kaiser, Fürsten und Kardinälen, gegen höchste Widerstände also. „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.“

Ein Leben als Gesamtkunstwerk

Und nicht wenige haben einen Luther vor Augen, den man sich neben seinem Gelehrtenberuf und seinen Kämpfen mit und in der Kirche als Familienmensch vorstellt: mit seiner Frau Katharina, Käthe, den gemeinsamen Kindern. Musizieren, Singen und ein Krug Bier gehören dazu. Ein Leben als Gesamtkunstwerk, in dem theologisches Denken und Leben, Glauben und vom Glauben Schreiben eine kaum zu trennende Einheit werden.

Viele fasziniert die Person Martin Luther

In dieser Perspektive kann Luther faszinieren, man kann ihn auch ablehnen. Faszinieren vermag er selbst dort, wo man kaum oder keinen Bezug zu Religion und christlichen Glauben hat und zu dem, was Luther über Gott sagen will. In Bundesländern wie Thüringen, Sachsen-Anhalt oder Sachsen ist Luther selbst dort „eine Marke“ oder ein touristischer Werbeträger, wo nur wenige Menschen religiös geprägt oder kirchlich gebunden sind. 

Musik: „Ein feste Burg ist unser Gott“  - Kay Johannsen / Klaus Mertens 

Person Luthers begleitet mich seit Kindheitstagen

Ich erinnere mich auch am Reformationstag an Luther, weil er mich schon seit meiner frühen Kindheit begleitet – bis heute. Ich komme aus einem gemischt-konfessionellen Elternhaus; mein Vater, evangelisch, wuchs in Eisenach auf. Gemeinsam schaute ich mit meinem Vater, schon in der Zeit, bevor ich lesen konnte, öfters in ein großes, schön ausgestattetes Buch. In ihm war die Wartburg zu sehen und ein Bild Luthers als Junker Jörg.

Erinnerungen an Luthers Bibelübersetzung

In dieser Zeit vor genau 500 Jahren hatte Luther, vom sächsischen Kurfürsten versteckt, die Bibel, das Neue Testament auf der Wartburg übersetzt. Luthers Sprache und seine Bibelübersetzung sollten mir schon bald öfters begegnen: feierlich, wenn in der Familie am Heiligen Abend das Weihnachtsevangelium vorgelesen und gemeinsam „Vom Himmel hoch…“ gesungen wurde. Im Religionsunterricht der Grundschule - es war Mitte der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts - lasen und hörten wir Luther, ohne dass sein Name fiel: Wir beteten gemeinsam den 23. Psalm „Der Herr ist mein Hirte“ – und zwar in Luthers Übersetzung. Wir mussten das Gebet auch auswendig lernen. Ich zehre noch heute von diesem frühen Stück Spiritualität. 

Luther als begnadeter Übersetzer und Schriftsteller

Luthers Bibelübersetzung – sie hat mich schon früh geprägt und begleitet mich noch heute. Ich muss nur die ersten Worte des 2. Kapitels des Lukasevangeliums hören: „Es begab sich aber zu der Zeit…“, und es stellt sich bei mir automatisch, fast naturwüchsig ein unwiderstehliches Weihnachtsgefühl ein. Das schafft keine andere Bibelübersetzung – sie kommen für mich entweder zu trocken, sachlich oder zeitgeistaffin daher. Luther als begnadeter Übersetzter, als Schriftsteller und religiöser Volksschriftsteller. Das ist ein zentraler Aspekt, wenn ich an Luther, wenn ich an die Reformation denke – nicht nur am morgigen Reformationstag. 

Luther war kein Einzelkämpfer beim Übersetzen der Bibel

Das alles ist Luther für mich auch geblieben, selbst wenn sich manche Mythen oder Lutherlegenden relativiert haben: Luther war bei seinem gewaltigen Übersetzungsprojekt der ganzen Bibel, des Alten wie des Neuen Testaments nicht etwa ein Einzelkämpfer. Er holte sich – was für Luther spricht – Experten hinzu. Mit denen sprach er über die angemessene Übersetzung eines Abschnitts der Bibel. Und das war gut so. Luther und auch seine Bibelübersetzung waren und sind zudem nicht unfehlbar. Das merkte ich, als ich im Studium schlicht die Luther-Übersetzung zur Hand nahm, wenn es mir zu mühselig wurde, eigenständig aus dem Hebräischen ins Deutsche zu übersetzen. Manchmal stand im Original des Alten Testaments etwas anderes als Luther es übersetzt hatte. Das mindert seinen Rang als Übersetzer nicht. 

Musik: „Wär Gott nicht mit uns diese Zeit“ - Bach, Kantate BWV 14 

Erinnerungen an Luther, die abschrecken

Ich erinnere mich am Reformationstag an das, was ich Luther verdanke und an das, wo ich mich schwer mit ihm tue, ja ihn sogar abschreckend finde.
Es ist kein weiter Weg zwischen den Orten, die maßgeblich Luthers Leben geprägt haben: Eisleben, Eisenach, Erfurt, Wittenberg. Man kann sich bereits an einem verlängerten Wochenende dort einen Blick verschaffen, wo und wie Luther lebte. In all diesen Orten und vielen mehr findet man an prominenter Stelle ein Lutherdenkmal; meistens im 19. Jahrhundert errichtet.

Lutherdenkmäler an vielen Orten im Osten Deutschlands

Denkmäler wollen an bedeutende Personen erinnern. Das Denkmal erhebt sie über das Normalmaß. Doch die Zeit ist vorbei, in der man unbestritten behauptete, dass große Männer Geschichte machen und sie unkritisch verehrte. Ja, aktuell gibt es weltweit viele Versuche, die Heroen früherer Zeiten vom Sockel zu stürzen. Man verweist auf deren dunkle Seiten, auf Lehren und Taten, die heute als unangemessen gelten. Bereits in ihrer Zeit oder später hatten diese Taten fatale Folgen. 

Abschreckend: Luthers Haltung im Bauernkrieg

Luther vom Sockel holen? Es fällt tatsächlich leicht, bei Luther etwas zu finden, was heute befremdlich, inakzeptabel, ja abschreckend erscheint. Bei den letzten Reformationsjubiläen – spätestens etwa im Jahr 2017 anlässlich „500 Jahre 95 Thesen“ – wurde daran erinnert. Luthers Haltung etwa in den Bauernkriegen, bei denen er die Herrscher seiner Zeit geradezu aufforderte, die aufständischen Bauern umzubringen. Luther und das Luthertum als treuer, unkritischer Vertreter eines Obrigkeitsstaats.

Seine fatalen Schriften gegen die Juden

Noch fataler lesen sich heute die späten Schriften Luthers gegen das Judentum: In diesen Schriften fordert er explizit zur Gewalt gegen Juden, deren Gotteshäuser und Schriften auf. Taufe oder Vertreibung – das was noch die mildeste Alternative. Ob von Luther, zumindest diesen Aussagen, eine direkte Linie zum Holocaust führt ist umstritten: Keine Lehre hat unmittelbare Folgen; doch wenn Ideen einmal in der Welt sind, dann können sie auch zu späteren Zeiten aufgegriffen und aus dem bösen Wort die monströse Tat werden.

Luther als Vorläufer des Wutbürgers?   

Was an Luther irritiert, ist diese Maßlosigkeit seiner Polemik. Sie geht über den Streit, die Diskussion mit harten Bandagen hinaus, auch über die derbe polemische Wortwahl seiner Zeit. Manchmal erscheint mir Luther als ein Vorläufer des Wutbürgers unserer Zeit, der gefangen in seinem Blick auf die Welt, unreflektiert austeilt. Und unweigerlich stellt sich die Frage: Warum diese Wut, dieser Hass?

Musik:„Nun freut Euch, Lieben ChristenG´mein“ - EKG 341  

Zwei Pole in Luthers Leben: Angst und Gottvertrauen

Ich erinnere mich am Sonntag vor dem Reformationstag an Martin Luther. Je länger ich mich mit ihm befasse, werden mir zwei Pole deutlich, die sein Leben dauerhaft durchziehen: Angst und Gottvertrauen. Immer wieder kann man beides bei ihm finden.

Luther hat Angst vor Christus

Dass Luther im Gewitter Angst erfasst, ist natürlich, dass er, gerettet, gelobt Mönch zu werden, ist nicht ungewöhnlich in einer Zeit, in der Gelübde zu fassen gängige Praxis ist. Doch auch das Kloster bietet für Luther keine Rettung vor der Angst: Er erschrickt vor Jesus Christus. Er sieht ihn ihm den Richter aller Menschen; er fürchtet Verurteilung und ewige Verdamnis.

„Christus erschreckt nicht, Christus tröstet.“

Luthers Beichtvater gibt ihm zu bedenken: „Es ist nicht Christus, der dich erschreckt. Christus erschreckt nicht, Christus tröstet.“ Es ist dieser Trost, die Gnade, die Rechtfertigung des Menschen in all seiner Schwäche, des Menschen als Sünder, den Luther später als Reformator zum Dreh- und Angelpunkt seiner Theologie macht. Hier scheut er keine Auseinandersetzung – mit der Kirche seiner Zeit, mit Theologen und Denkern aller Art.

Gottvertrauen - doch Angst bleibt

Daraus spricht ein großes Gottvertrauen; doch die Angst bleibt. Luther ist sich sicher, dass das Ende der Welt, der jüngste Tag unmittelbar bevorsteht: Die Welt vergeht, und Jesus Christus kommt wieder als Richter der Lebenden und der Toten. Es gibt Vorboten dieses Endes; die darauf schließen lassen. Vor allem Ereignisse, die die scheinbar gottgewollte Ordnung der Welt in Frage stellen und beschädigen: die aufständischen Bauern, die widerspenstigen Juden, die dem Ruf des Evangeliums nicht folgen wollen. Für beide kann es für Luther keine Toleranz geben; sie müssen bekämpft werden – nicht nur mit Argumenten in seinen Büchern, sondern mit Gewalt. Das soll der Staat richten. Doch Angst ist ein schlechter Ratgeber. Das gilt auch für Luther. 

Luther und seine Theologie begleiten mein Leben

Luther begleitet mein Leben: seine Sprache, seine Theologie, seine Lehre und auch die Etappen seines Lebens. So wird es auch bleiben – nicht nur am Reformationstag. Luther ist für mich ein besonderer Lehrer geworden und geblieben. Dies festzustellen, bedeutet nicht, ihm kritiklos zu begegnen. Angriffsflächen bietet er genug. Doch wer könnte schon mit einer blütenweißen Weste aufwarten – vor Gott und den Menschen, zumal den Nachgeborenen? Der Mensch bleibt immer Sünder; er bleibt auf Vergebung angewiesen, von seinen Menschen wie von Gott. Nur so kann ein Neuanfang im Leben gelingen.

Das zentrale Erbe der Reformation: „Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe“

Gott spricht dem Menschen diese Vergebung zu, weil er ihn liebt. Oder um es mit Luthers Worten, mit seiner kraftvollen Sprache in einem anschaulichen Bild zu sagen: „Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe, der da reicht von der Erde bis zum Himmel“. Das ermutigt mich auch für meinen Alltag. Das ist das zentrale Erbe, das ich von Martin Luther und vom morgigen Reformationstag mitnehme. 

Musik: Ein feste Burg ist unser Gott - EKG 362

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