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Wie neugeboren
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Wie neugeboren

Michael Tönges-Braungart
Ein Beitrag von Michael Tönges-Braungart, Pfarrer
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Der heutige Sonntag heißt der „weiße Sonntag“. Nicht nur, weil in vielen katholischen Kirchen heute zehnjährige Kinder ihre Erstkommunion feiern – die Mädchen dabei traditionell weiß gekleidet. Den Namen hat der Sonntag schon lange, weil er mit der Erinnerung an die Taufe verbunden ist.

Weiß – die Farbe der Reinheit und der Unschuld

In den Anfangszeiten des Christentums haben diejenigen, die an Ostern getauft worden waren, eine ganze Woche lang ihre weißen Taufkleider getragen bis zum Sonntag nach Ostern. Weiß – die Farbe der Reinheit und der Unschuld. Die weißen Kleider der Getauften waren Zeichen dafür, dass sie mit der Taufe einen neuen Anfang gesetzt haben. Für sie hat das Leben gleichsam noch einmal neu begonnen. Der weiße Sonntag hat deshalb noch einen lateinischen Namen: Quasimodogeniti. Bedeutet übersetzt „wie die neugeborenen Kinder“. So können Christ*innen sein. Weil Gott ihnen einen neuen Anfang schenkt.

Quasimodogeniti:  „Wie die neugeborenen Kinder“

Noch einmal ganz von vorn anfangen – manche träumen davon. Neu beginnen, frei von dem Ballast, der sich im Laufe des Lebens angesammelt hat. Alles auf Start – unbefangen, aber am besten zugleich klüger, als man es bisher gewesen ist.

Denn manchmal wird mir erst im Nachhinein klar, wo ich eine falsche Entscheidung getroffen habe. Dieses Wissen würde ich gern nutzen und sage: „Beim nächsten Mal würde ich das anders machen! Wenn ich’s noch mal zu tun hätte, würde mir dieser Fehler nicht mehr passieren.“

Oft sind das kleine Entscheidungen und Fehler, bei denen mir das so geht. Und ich kann gut damit leben, dass es nun einmal so und nicht anders gekommen ist; dass mein Leben so und nicht anders verlaufen ist.

Es gibt schwere Fehler, die nicht wieder gut zu machen sind

Aber es gibt auch große, gewichtige Entscheidungen, die ein ganzes Leben bestimmen und die ein Mensch gerne rückgängig machen würde, wenn es nur irgendwie möglich wäre. Es gibt schwere Fehler, die nicht wieder gut zu machen sind, die immer noch belasten; nicht nur den Menschen selber, sondern auch andere, weil sie Verletzungen davongetragen haben. Noch einmal ganz von vorne anfangen, ohne all den Ballast – davon kann man dann nur träumen.

"Ich wäre so gern anders – aber ich kann einfach nicht aus meiner Haut heraus!"

Und es sind ja nicht nur die eigenen Fehlentscheidungen und die eigenen Fehler, die Menschen als Ballast mit sich herumschleppen. Da sind auch Erlebnisse in der Kindheit und Jugend, die sie geprägt haben - und nicht immer nur positiv. Da ist die Erziehung, die sie mitbekommen haben. Sie sollte ihnen helfen, erwachsen zu werden, hat ihnen aber auch Verletzungen und Verbiegungen beigebracht hat, unter denen sie leiden. Manche sagen: „Ich wäre so gern anders – aber ich kann einfach nicht aus meiner Haut heraus!“

Was für eine Befreiung wäre es da, noch einmal ganz von vorn anfangen zu können – wie ein neugeborenes Kind.

Musik: Johann Sebastian Bach, Goldberg-Variationen BWV 988, Variation 19 Canone alla Settima (Amati String Trio)

Quasimodogeniti: "Wie die neugeborenen Kinder"

Quasimodogeniti – so der lateinische Name für diesen ersten Sonntag nach Ostern. Auf Deutsch: „Wie die neugeborenen Kinder“. Das ist eine Erinnerung daran, dass Gott einen neuen Anfang schenkt.

Taufe geschieht immer mit Wasser

Dafür steht die Taufe. In der frühen Christenheit wurden überwiegend Erwachsene getauft. In manchen Kirchen ist das bis heute so. Die Taufe geschah meist an einem Gewässer, einem Fluss oder einem See. Die Täuflinge wurden dabei ganz untergetaucht. Und große Taufbecken in sehr alten Kirchen zeugen davon, dass es früher auch bei Säuglingen üblich war, sie kurz ganz unterzutauchen. So waren sie vor den Augen der anderen unter der Wasseroberfläche verschwunden, um dann wieder neu aufzutauchen – wie neugeboren in ein neues Leben.

Wasser ist das Symbol für Leben

Ganz gleich, ob nun Erwachsene oder Kinder getauft werden – es geschieht immer mit Wasser. Wasser ist das Symbol für Leben – und es steht auch für Reinigung. Wie neugeboren fühlt man sich nach einer Dusche oder einem Bad. Wenn ich zum Beispiel im Garten gearbeitet habe und dabei ordentlich ins Schwitzen gekommen bin. Oder auch nach einem langen Tag im Büro, nach dem ich zwar keinen äußeren Staub und Schmutz abwaschen muss, aber anderes loswerden möchte, um mich frei zu fühlen. Wenn ich dann dusche und ein Bad nehme, dann fühle ich mich wie neugeboren, sauber und erfrischt.

Die Taufe steht dafür, dass Gott einen neuen Anfang schenkt

Zur Taufe gehört immer Wasser. Und ganz gleich, ob die Täuflinge dabei ganz untergetaucht werden oder ob sie nur ein wenig Wasser über den Kopf geschüttet bekommen – die Taufe steht dafür, dass Gott einen neuen Anfang schenkt. Gott will die Flecken von mir abwaschen, den Schmutzfilm oder Grauschleier, die mein Leben verunstalten und seine ursprünglichen Farben überdecken.

Ich wurde als kleines Kind getauft mit dreimal Wasser über den Kopf. Das gilt und das wirkt fürs ganze Leben. Ich lasse mich immer wieder an die Taufe erinnern. Und daran, dass Gott immer wieder einen neuen Anfang schenkt. Martin Luther hat mal sehr bildhaft gesagt, dass man sozusagen täglich „aus der Taufe kriechen muss“.

Ich übersetzt das für mich so: Ich kann mich täglich vergewissern, dass ich aus Gottes Kraft schöpfe. Es gibt eine starke Verbindung zwischen Gott und mir, und die trägt und hält mich jeden Morgen neu.

"Gott hat den Schuldbrief getilgt, der mit seinen Forderungen gegen uns war, und hat ihn aufgehoben und an das Kreuz geheftet."

In der Bibel, im Neuen Testament gibt es noch ein anderes Bild für das, was damit gemeint ist. Da steht: „Gott hat den Schuldbrief getilgt, der mit seinen Forderungen gegen uns war, und hat ihn aufgehoben und an das Kreuz geheftet.“ (Kolosser 2, 14). Das klingt erst einmal befremdlich: Was für ein Schuldbrief? Und warum wurde der ans Kreuz geheftet? Über dieses Bild möchte ich gleich nach der Musik nachdenken.

Musik: Johann Sebastian Bach, Goldberg-Variationen BWV 988, Variation 21 Canone alla Settima (Amati String Trio)

Noch einmal von vorne beginnen können. Die Chance für einen neuen Anfang erhalten. Das drückt eine Stelle in der Bibel so aus: „Gott hat den Schuldbrief getilgt, der mit seinen Forderungen gegen uns war, und hat ihn aufgehoben und an das Kreuz geheftet.“

Wer einen Kredit aufnimmt, verpflichtet sich für viele Jahre

Schuldbrief. „Man macht keine Schulden!“, so haben es früher viele gelernt. Heute ist das schon anders – vor allem, wenn die Zinsen so niedrig sind wie zuletzt. Da bietet es sich an, Schulden zu machen und manches auf Kredit zu finanzieren. Und wenn’s um größere Dinge wie einen Hausbau oder den Kauf einer Wohnung geht, lässt sich das gar nicht umgehen. Mancher erinnert sich an das mulmige Gefühl, als er einen Kreditvertrag über eine größere Summe unterschrieben und sich damit auf lange Zeit festgelegt hat. Denn wer einen Kredit aufnimmt, verpflichtet sich für viele Jahre; der ist, was seine Finanzen betrifft, nicht mehr frei, bis er den Kredit abbezahlt hat.

Und es gibt immer wieder Menschen, denen ihre Schulden über den Kopf wachsen. Mahnungen häufen sich an; der Gerichtsvollzieher kommt. Manchmal stehen zwangsversteigerte Eigenheime am Ende einer solchen traurigen Geschichte, oft ohne dass die Betroffenen am Ende schuldenfrei wären. Schuldnerberatung und die Möglichkeit, Privatinsolvenz anzumelden, wenden oft das Schlimmste ab. Aber sie können nicht immer verhindern, dass Menschen wegen ihrer Schuldenlast mit großen Einschränkungen leben müssen und das ihr Leben überschattet.

Was für Einzelne gilt, betrifft auch ganze Staaten. Über die Verschuldung Deutschlands wird immer wieder politisch gestritten. Zurzeit erscheint das Schuldenmachen aus guten Gründen wieder nötig und sinnvoll.

Schulden – zumindest zu viele Schulden - machen unfrei

Schulden – zumindest zu viele Schulden - machen unfrei. Ein Schuldschein ist für einen Menschen wie ein großes Minus vor der Klammer, das alles andere abwertet. Er ist Brief und Siegel dafür, dass sie oder er nicht mehr frei ist.

„Schulden = Knechtschaft“

Zur Zeit der ersten Christen konnten Schuldner, die nicht zahlen konnten, mitsamt ihren Familien in die Sklaverei verkauft werden, um aus dem Erlös die Schulden zu tilgen. In mittelalterlichen Städten gab es bei uns die Schuldnertürme, in denen säumige Zahler gefangen gehalten wurden. Die Methoden sind heute andere. Das Prinzip „Schulden = Knechtschaft“ ist das gleiche geblieben.

Es gibt im Leben nicht nur Schulden, die in Euro und Cent aufzurechnen sind

Nun gibt es im Leben nicht nur Schulden, die in Euro und Cent aufzurechnen sind. Es gibt das, was ich anderen schuldig bleibe oder an ihnen schuldig werde durch das, was ich tue, oder auch, was ich versäumt habe zu tun. Das ist eine Schuld, die schwer wiegt, bei der ich merke: Damit habe ich etwas angerichtet. Das sind Taten oder Worte, mit denen ich andere verletzt und ihnen Schaden zugefügt habe. Manchmal liegt mir ein Satz auf der Zunge und ich weiß: Sag ihn nicht! Der ist verletzend. Aber ich kann ihn mir nicht verkneifen, sage ihn doch und sehe im Gesicht meines Gegenübers: Der Satz hat wehgetan.

Da habe ich mit einem Besuch gezögert, auf den jemand gewartet hat und der wichtig, ja sogar nötig gewesen wäre - und ich habe ihn so lange vor mir hergeschoben, bis es zu spät war. Ein anderes Mal tue oder sage ich etwas, um mich selber vor Schwierigkeiten zu bewahren; manchmal, ohne es zu wollen oder zu merken.

Schuld – das sind Taten und Worte, mit denen Menschen gegen Ordnungen für unser Zusammenleben verstoßen haben, die sie selber im Grunde für richtig und notwendig halten. Eine hat geschwiegen, als eine Freundin zu Unrecht beschuldigt wurde. Die Gelegenheit, die Wahrheit zu sagen und ihr zu helfen, ist verstrichen. Da hat einer mit dem Auto leichtsinnig überholt und einen Unfall verursacht, bei dem andere zu Schaden gekommen sind.

Schuld – Worte und Taten, die sich nicht mehr aus der Welt schaffen lassen

Schuld – das sind Taten, die sich nicht mehr aus der Welt schaffen lassen; an deren Folgen andere und auch sie selber zu tragen haben. Schuld – das sind Worte, die man nicht wieder zurücknehmen kann und die sich ins Gedächtnis anderer oder in das eigene eingebrannt haben. Das belastet. Das macht unfrei. Schuld bedeutet immer auch Knechtschaft.

Musik: Arcangelo Corelli, Violin-Sonate in F, op. 5/4 1, Adagio (Andrew Manze, Violine und Richard Egarr, Klavier)

Schuld bedeutet immer auch Knechtschaft

Schuld bedeutet immer auch Knechtschaft. In der Bibel steht: „Gott hat den Schuldbrief getilgt, der mit seinen Forderungen gegen uns war, und hat ihn aufgehoben und an das Kreuz geheftet.“

Der Schuldner zwischen Gläubiger und Richter

Da wird einem Schuldner der Prozess gemacht. Auf der einen Seite die Gläubiger, die ihre Schulden eintreiben wollen. Auf der anderen Seite der Richter, der das Urteil zu sprechen hat. Und dazwischen der Angeklagte, der nicht zahlen kann. Was hat er Gutes zu erwarten? Jeder kann schon vorhersagen, wie der Prozess ausgehen, wie das Urteil lauten wird. Mit gesenktem Kopf steht der Angeklagte da – schuldbewusst und beschämt.

Und dann das Unerwartete. Hammerschläge dröhnen durch den Saal. Der Angeklagte hebt den Kopf und sieht, wie der Richter den Schuldschein zerreißt, ihn aufhebt. In dem Bibelvers heißt es: Gott hat den Schuldschein an das Kreuz Jesu Christi geheftet. Der Schein hat seine Gültigkeit verloren. Das Minus vor der Klammer des Lebens ist gelöscht; die Schulden sind getilgt. Als freier Mann kann der Angeklagte den Saal verlassen. Eine Riesenlast ist von seinen Schultern genommen. Er kann den Kopf wieder heben und allen ins Gesicht sehen. Er bekommt das Leben noch einmal geschenkt und kann noch einmal ganz von vorne anfangen. Das fühlt sich wie neugeboren an.

Gott schenkt einen Neuanfang und macht frei

Für mich ist das ein eindrucksvolles Bild dafür, dass Gott einen neuen Anfang schenkt. Gott macht mich frei von meiner Schuld. Mein Schuldbrief hat seine Gültigkeit verloren. Ich kann aufrecht dastehen und muss nicht mit gesenktem Kopf herumlaufen. Alles, was gegen mich spricht, hat seine Macht über mich verloren. Das Minus vor der Klammer hat sich in ein großes Plus gewandelt. Ich bin wie neugeboren.

Musik: Felix Mendelssohn Bartholdy, Singet dem Herrn ein neues Lied (Stuttgart Chamber Choir)

Natürlich werde ich nicht allen Ballast aus meinem Leben los. Ich kann nicht alle falschen Entscheidungen, die ich einmal getroffen habe, rückgängig machen. Natürlich trage ich meine Vergangenheit weiter mit mir herum – das, was mir hilft und was mich trägt, und auch das, was mich belastet und behindert.

Es gehört zur Gerechtigkeit, dass Menschen sich für das verantworten, was sie getan haben.

Die Folgen dessen, was Menschen anrichten, sind dadurch nicht aus der Welt geschafft. Es gehört zur Gerechtigkeit, dass Menschen sich für das verantworten, was sie getan haben. Der Glaube daran, dass Gott Schuld vergibt, bedeutet: Jeder Mensch ist nicht auf das festgenagelt, was er und sie getan hat. Jeder Mensch ist mehr als seine guten und schlechten Taten. Und immer gibt es die Möglichkeit, zu bereuen und neu anzufangen.

Menschen sind vor Gott nicht durch ihre Fehler definiert. Niemand ist auf ewig Sklave seiner oder ihrer Schuld. Vor dem, was wir tun und sagen, steht nicht ein großes Minus, ein großes Nein. Sondern da steht ein großes Plus; ein unerschütterliches Ja Gottes.

Ich kann weiterleben – trotz meiner Schuld – und mit meiner Schuld

Das bedeutet: Ich kann weiterleben – trotz meiner Schuld – und mit meiner Schuld. Denn Gott ist größer als alles – und ganz bestimmt größer als das, was ich falsch mache. Er nimmt mir meine Schuld ab und schenkt mir einen Neuanfang.

Wenn ich auf Gottes Ja, auf dieses große Plus vor meinem Leben vertraue, hilft mir das, zu meiner Verantwortung zu stehen. Es stärkt mich, damit ich wieder gut mache, wenn das möglich ist. Ich kann einen Menschen, den ich durch unbedachte Worte verletzt habe, um Entschuldigung bitten und in Zukunft besser auf meine Worte achten. Ich kann mir vornehmen, Besuche bei Menschen, die mich brauchen, nicht mehr auf die lange Bank zu schieben. Ich kann mir vornehmen, mich nicht zu drücken, wenn ich gefordert bin, für einen Freund oder eine Kollegin einzustehen. Und ich kann großzügiger sein mit anderen, wenn sie mir gegenüber Fehler machen.

Darauf vertrauen, dass Gott vergibt, ist ein Weg, mit dem zu leben, was ich nicht mehr in Ordnung bringen kann. Das heißt für mich: Ich kann zu meiner Verantwortung stehen, ohne mich mit Selbstvorwürfen zu quälen.

Gott schenkt einen neuen Anfang – immer wieder.

Der heutige Sonntag erinnert daran. Nicht nur die Getauften. Aber sie haben einen Punkt, an dem sie das festmachen können. Wer getauft ist, kann sich sagen: In der Taufe ist mir auf den Kopf zugesagt worden: Gott will all die Flecken, den Schmutzfilm oder den Grauschleier, die mein Leben verunstalten und seine ursprünglichen Farben überdecken, von mir abwaschen. Meine Schuldscheine, was mich belastet und gefangen hält, das hat vor Gott seine Gültigkeit verloren. Und deshalb kann ich immer wieder einen neuen Anfang wagen.

Daran will ich mich erinnern – nicht nur heute am weißen Sonntag, am Sonntag Quasimodogeniti. Damit ich mich wie neugeboren fühle. Gott sei Dank!

Musik: Johann Sebastian Bach, Sei Lob und Preis mit Ehre (Bach Collegium Japan unter Mazaaki Suzuki)

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