Wie die Zeit vergeht!
„Wie die Zeit vergeht!“ So sagen wir, wenn eine Familienfeier ansteht oder ein Klassentreffen oder wenn wir in analogen oder digitalen Fotoalben blättern. Auch ich denke jetzt Ende Januar oft: Wie die Zeit vergeht! Ich staune darüber, wie schnell der erste Monat des neuen Jahres vergangen ist.
Aber wie vergeht sie denn eigentlich, die Zeit? Unser Zeitempfinden ist ja sehr unterschiedlich. In besonderen Glücksmomenten scheint sie still zu stehen, wenn alles passt und es einfach ein schöner Moment ist, wenn wir die Schöpfung bestaunen, wenn ein Mensch geboren wird, wenn uns etwas gut gelingt. Im alltäglichen Einerlei plätschert die Zeit eher dahin wie ein Bach auf dem Weg zur Flussmündung. Ohne besondere Ereignisse oder Herausforderungen weilt die Zeit lange und beschert uns Langeweile. Aber manchmal gibt es auch einen regelrechten Ruck in der Zeit: Wenn uns rasche Veränderungen zugemutet werden, wenn unser Leben ins Beben gerät, wenn nichts mehr so weitergeht, wie es eben noch war, und wir aus der Fassung geraten.
Die Zeit hat einen Ruck gemacht
So ähnlich empfinde ich das letzte Jahr. Die Zeit hat einen Ruck gemacht. Gute Gewohnheiten wurden durchbrochen. Wenn sich Alltäglichkeit eingestellt hat, dann für viele Menschen ganz anders als gewohnt; vor allem für die, die von der Krankheit oder ihren existentiellen Folgen direkt betroffen sind.
Musik 1: Instrumentalmusik nach dem Versus „Fulget dies celebris“, aus: Hildegard von Bingen und ihre Zeit. Geistliche Musik des 12. Jahrhunderts, Ensemble für frühe Musik Augsburg, Christophorus Digital 74584, 1990, Nr. 11. LC 0612
Spätestens mit dem ersten Lockdown im vergangenen Frühjahr wurde mir wie den meisten von uns bewusst: Hier kommt etwas Unvergleichbares auf uns zu; eine Krise ungeahnten Ausmaßes, Gefährdung in vielerlei Hinsicht. Und das fordert neben der Bereitschaft zu Einschränkungen und Opfern in der persönlichen Lebensgestaltung vor allem auch eine besondere Aufmerksamkeit für das, was sich bei mir und bei anderen ereignet. Und mir war klar: Uhr und Kalender werden mir wenig dabei helfen, diese kommende Zeit in ihrer Qualität zu ermessen und mich irgendwann einmal – wenn die Krise, so Gott will, vorüber ist – angemessen zu erinnern.
Was wird jedem von uns von diesem Jahr in Erinnerung bleiben?
Am 12. März habe ich mir eine Seite aus der Tageszeitung herausgelegt. Damit begann meine private Corona-Chronologie; der ganz subjektive Versuch einer Zeiterfassung. Mittlerweile sind es 49 Blätter. Sie enden bislang am 15. Januar mit einer traurigen Mischung von Nachrichten: Es gab einen neuen Höchststand bei den Corona-Toten, ein längerer Lockdown zeichnete sich ab, und die Wirtschaftsdaten des Jahres 2020 waren erwartbar gesunken.
Hamsterkäufe und heilige Messen im Autokino
In zufälliger Auswahl lassen diese Blätter mich die Zumutung und die Wucht der Entwicklungen nachvollziehen: „Wir haben keine Erfahrung mit dem Mangel” am 12. März. Da ging es im Artikel um die Absage unzähliger Kulturveranstaltungen und die seltsamen Hamsterkäufe. Am Karsamstag standen die Probleme der Osterfeiertage im Fokus unter der Überschrift: „Heilige Messe im Autokino”. 22. Mai: „Das Zerwürfnis”. Ein Bericht darüber, wie Corona das Verhältnis zwischen China und den Vereinigten Staaten belastet. 4. Juli: „Die zweite Welle ist da”. Da waren hier bei uns noch geradezu „selige Zeiten“ der Inzidenzzahlen, wir konnten Ferien planen. In Israel aber war das Coronavirus bereits stärker zurück als je zuvor. Am 1. September empfing der Bundespräsident diejenigen Polizisten, die den Angriff pöbelnder Demonstranten auf den Reichstag abgewehrt hatten: „Steinmeier fordert entschiedenen Kampf gegen Rechtsextremismus”. Mitten in der zweiten Phase deutlicher Kontakt-Beschränkungen, Schließungen von Gaststätten und unfreiwilliger Pause im Kulturbetrieb dann die Vorüberlegungen: „Wie impft man Millionen?” Anfang Januar die besorgte Frage: „Wie geht es mit den Schulen weiter?“ Zuvor aber am 28. Dezember nach den ersten Impfungen: „Hoffnung, Tag eins“.
Bewirkt dieser Ruck in unser aller Leben, dass wir etwas ändern?
Wie wird meine und unsere Corona-Chronologie weitergehen? Werden wir in einem überschaubaren Zeitraum sagen können: Wir haben die Krise weitgehend gemeistert? Wie lange werden wir an den Folgen knabbern, den nationalen und weltweiten, den materiellen und seelischen? Und wie sieht eine „Normalzeit“ nach Corona aus? Werden wir aus dem Ruck der Zeit Konsequenzen ziehen und etwas ändern, oder kehrt der Bach der Zeitläufte wie nach einer verheerenden Überschwemmung einfach in sein Bett zurück und plätschert, als wäre nichts gewesen? Ausgemacht sind die Alternativen weiß Gott nicht. Und es liegt an uns, ob wir lernen wollen und Veränderungen zulassen im Kleinen und im Großen, die – auch wenn sie mit Aufwand und Kosten verbunden sind – zu einem besseren Leben, zu Entschleunigung, Solidarität und größerer Gerechtigkeit beitragen. Ich bin jedenfalls entschieden dafür.
Musik 2: Gesang „Führ, mildes Licht“ nach einem Text von John Henry Newman, aus: Mein Engel. Lyrische Engellieder von Thomas Gabriel, Cantica Nova Edition, ifo 03001, 2001, Nr. 3. LC10725
Einschneidende Ereignisse verändern unsere Zeitwahrnehmung
„Wie die Zeit vergeht!“ Laut einer Online-Umfrage unter 600 Erwachsenen hatten nur knapp zwanzig Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer den Eindruck, dass die Zeit während der Pandemie in normalem Tempo verstreicht. Für rund vierzig Prozent vergeht die Zeit schneller als normal, ähnlich hoch ist der Anteil der Befragten, die den Verlauf der Zeit langsamer wahrnehmen. Veränderungen im täglichen Leben haben also einen deutlichen Einfluss auf unsere Zeitwahrnehmung. Zeit braucht offensichtlich Orientierung. Wie wir die Zeit in ihrer Qualität empfinden und ihre Dauer im Rückblick einschätzen, das hängt vom Grad der Aufmerksamkeit ab, die wir der Zeit gewidmet haben. Je größer die Ablenkung, desto schneller vergeht die Zeit. Diejenigen, die während des ersten Lockdowns wenig zu tun hatten und deren Alltagsroutinen gestört waren, nahmen die Zeit langsamer wahr, weil sie ihr mehr Aufmerksamkeit schenken konnten. Angst und Ungewissheit, wie bedrohlich dieser globale Ausnahmezustand ist und wie lange er dauern wird, zeigen einen ähnlichen Effekt. Andererseits ist die Zeit der Pandemie durch so viele ungewöhnliche Ereignisse und Nachrichten geprägt, dass man den Eindruck hat, der Beginn liege weit in der Vergangenheit zurück. Orientierungspunkte draußen und die „innere Uhr“ des subjektiven Zeitempfindens sind mithin entscheidend, warum wir diese außergewöhnliche Zeit so anders empfinden (vgl. Sibylle Anderl, Warum die Zeit so anders vergeht, in: F.A.Z. Nr. 279, 30. November 2020, 9).
Innehalten dürfen und Zeit verstreichen lassen
Im neuen Roman des Erfolgsautors Pascal Mercier, Das Gewicht der Worte (Roman, München 2020, 424f.), wird der Protagonist Simon Leyland durch einen ärztlichen Irrtum mit tödlicher Diagnose aus der Bahn geworfen. Erst Monate später klärt sich der Fehler auf. Jetzt, da er wieder eine Zukunft hat, will er verschwenderisch mit seiner Zeit umgehen. Er sagt: „[…] nun sitze ich – ein und derselbe Mensch, der jene erschütternde Erfahrung der knappen Zeit gemacht hat – in (einem) stillen Arbeitszimmer und genieße es, die Zeit einfach verstreichen zu lassen. Nichts tun, mir nichts vornehmen, nichts planen. Leben ganz ohne Vorsatz. […] Die Zeit verstreichen lassen: Es kann mit oder ohne Aufmerksamkeit geschehen. Es kann sich um blinde Untätigkeit handeln, dann ist die Zeit und ihr Verstreichen kein Thema, kein Inhalt des Erlebens. Plötzlich ist es Abend, ich habe nichts getan, sitze immer noch hier, die Zeit ist verflossen […] Das Verstreichen kann aber auch im Brennpunkt der Aufmerksamkeit sein: Ich beobachte, wie (der Nachbar) nach Hause kommt, wie der Hund an ihm hochspringt, wie erst das Licht unten angeht, dann oben, vor einem anderen Haus hält ein Taxi, ein Mann mit Krücken quält sich aus dem Wagen und schleppt sich zum Haus, die Zeit dehnt sich […]. Entscheidend ist, dass ich nicht eingreife, auch nicht den Impuls dazu spüre, es bleibt beim gelassenen Betrachten. Es ist ein Luxus: Ich muss nichts mit dieser Zeit machen, es gibt nichts, was zwischen den Beobachtungen zu erledigen wäre, außen nichts und auch nichts im Inneren, nichts zu überlegen und zu planen, nichts zu verarbeiten und zu überwinden, nichts, was unter Kontrolle zu bringen wäre, eine distanzierte, ruhige Gegenwart ohne Verwicklung. Kein Zwang, auch kein innerer, kein Ziel, keine Herrschaft eines Ziels, kein inneres Rechnen mit der Zeit.“ So beschreibt es Pascal Mercier.
Musik 3: Instrumentalmusik „Kristall“, aus: Hans-Jürgen Hufeisen, Domino, TELDEC 246055-2 ZP, 1989, Nr. 2. LC 3706
Tausend Jahre sind in deinen Augen wie ein Tag
Für gläubige Menschen gibt Gott die Grundorientierung im Leben. Und das wirkt sich natürlich auch auf das Zeitgefühl aus. So kann der Beter im Psalm 90 sprechen:
„O Herr, du warst uns Wohnung von Geschlecht zu Geschlecht. Ehe geboren wurden die Berge, ehe du unter Wehen hervorbrachtest Erde und Erdkreis, bist du Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit. Denn tausend Jahre sind in deinen Augen wie der Tag, der gestern vergangen ist, wie eine Wache in der Nacht. Die Zeit unseres Lebens währt siebzig Jahre, wenn es hoch kommt, achtzig. Das Beste daran ist nur Mühsal und Verhängnis, schnell geht es vorbei, wir fliegen dahin. Unsere Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz. Sättige uns am Morgen mit deiner Huld! Dann wollen wir jubeln und uns freuen all unsere Tage. Lass gedeihen das Werk unserer Hände, ja, das Werk unserer Hände lass gedeihn!“ (Psalm 90, 1-2.4.10.12.14.17). So beschreibt es Psalm 90 in der Bibel.
Glaube gibt Halt. Das habe ich in dieser Krisenzeit deutlich erfahren, und viele Menschen haben es mir im persönlichen Gespräch oder auf andere Weise mitgeteilt. Nicht zuletzt deshalb ist das Recht auf freie Ausübung der Religion auch in unserer bunten gesellschaftlichen Wirklichkeit und angesichts notwendiger Einschränkungen zur Eindämmung der Pandemie ein so hohes Gut. Der Glaube gibt Halt.
Ich weiß, Gott hält meine Zeit in seinen Händen
Christen und Christinnen deuten die Zeit im Spiegel der Ewigkeit und verbinden diese Perspektive mit dem eigenen Empfinden. Das mindert die Herausforderungen nicht, die Sorgen erscheinen womöglich noch drängender. Dem Menschenmöglichen werden die Grenzen aufgezeigt. Zugleich wird aber auch die schöpferische Kraft des eigenen Beitrags bewusst. Auch ich habe Sorgen und Ängste in dieser Krise. Aber ich spüre auch immer wieder eine große Ruhe und Dankbarkeit, weil ich weiß: Ich bin in Gottes Treue geborgen. Er hält meine Zeit in seinen Händen. Das ändert etwas in meinem Zeitempfinden, es gibt der Zeit eine neue Dimension.
Zuversichtlich, dass Gott uns durch diese schwierige Zeit führen wird
„Wie die Zeit vergeht!“ – das bleibt für mich kein melancholischer Seufzer und auch keine unbeantwortete Frage. Die Zeit geht auf – in Gottes Ewigkeit. Das ist mir vor langer Zeit einmal bewusst geworden, als ich ein kleines Gebet des Jesuitenpaters Wilhelm Eberschweiler (1837-1921) fand. Seitdem bete ich es oft. Da heißt es: „Wie tröstlich ist es doch, bester Vater, dass du meinen Kalender […] schon längst und auf das Genaueste gemacht hast. So überlasse ich mich ganz deiner gütigen Führung und kenne nur eine Sorge, deinen väterlichen Willen zu erkennen und zu erfüllen.” Ich finde in diesen Worten viel Trost, der mich durch die Zeit trägt. Und ich vertraue darauf, dass Gott uns durch diese schwierige Zeit führen wird. Ich wünsche Ihnen, dass Sie auf Ihre eigene Weise, mit Vertrauen und Zuversicht diese so außergewöhnliche Zeit deuten und leben können.
Musik 4: „Meine Zeit steht in deinen Händen“ (Text und Melodie: Peter Strauch. Satz: Gordon Schultz, aus: „Ich will dir danken“. C SCM Hänssler, Holzgerlingen), Ausführende: Dommusik Limburg.