Wer eine Pilgerreise tut…
Sich auf die Reise zu begeben, das bedeutet, Unbekanntes zu wagen. Wenn ich mich auf Reisen begebe, dann heißt das: Ich verlasse das heimische Umfeld, und die Alltagsroutine bleibt zurück. Manchmal wird aus einer Reise ein Abenteuer. Gerade Reiseerlebnisse bleiben oft ein Leben lang unvergesslich.
Die Faszination des Reisens und die Erkenntnis, dass es im Leben immer wieder nötig ist, aufzubrechen, das spielt beides auch im Glauben eine wichtige Rolle. „Wenn einer eine Reise tut“, der Themenschwerpunkt im Programm von hr2-Kultur, passt deshalb auch gut zu Pfingsten.
Pfingsten ist ja für die Christen das Fest, bei dem es um Gottes Heiligen Geist geht. An Pfingsten, so erzählt es die Bibel, hat Gottes Geist die Jüngerinnen und Jünger nach draußen getrieben. Er hat sie in Bewegung gesetzt, zu fremden Menschen hin. Und das tut er auch heute noch: Mut machen zum Aufbruch.
Es braucht manchmal tatsächlich Mut, um aus dem eigenen Zuhause, aus dem Gewohnten aufzubrechen. Es braucht auch Mut, um auf Reisen zu gehen.
Ich kann mich noch gut an meine erste Reise allein erinnern. Als Kind durfte ich mit zehn Jahren mit dem Zug aus der Gießener Heimat übers Wochenende nach Frankfurt zu Onkel und Tante fahren. Noch heute, mehr als dreißig Jahre später, kann ich die Aufregung bei der Abreise nachempfinden. Und ich weiß noch gut, wie erleichtert ich war, als ich am Sonntagnachmittag wieder zu Hause war, und was ich da alles zu erzählen hatte: von der Bootstour auf dem Main, vom U-Bahn-Fahren, vom Senckenbergmuseum mit den Saurierskeletten und vom Postmuseum mit alten Kutschen, Uniformen und Telefonen. Das erste Mal allein verreist! Das war eine wichtige Lebenserfahrung für mich.
Heute will ich in dieser Morgenfeier mal der Freude am Aufbruch und dem Sinn des Unterwegsseins nachspüren.
Musik 1:
Joseph Haydn, Menuet aus dem Streichquartett A-Dur (op. 20), CD: „Joseph Haydn. String Quartets Op. 20“ CD 1/2: Buchberger Quartet, Label Brilliant Classics (93545/2), Track 7, 02:27
In der Menschheitsgeschichte war das Unterwegssein ja lange Zeit der Normalfall, auch in frühen biblischen Zeiten. Die Urmütter und Urväter im Alten Testament wurden erst spät richtig sesshaft. Ursprünglich waren sie Nomaden und zogen mit ihren Sippen und ihren Kleintierherden umher, immer auf der Suche nach Weideplätzen und Wasserstellen. Das Umherziehen war da freilich kein Vergnügen, sondern überlebenswichtig.
Einer der Erzväter aus dem ersten Buch der Bibel ist so etwas wie ein Sympathieträger des Aufbruchs. Abraham heißt er, und er lebt schon eine ganze Weile in derselben Gegend, zusammen mit seiner Frau Sara, seinem Bruder und einer großen Verwandtschaft samt Herden. Fünfundsiebzig Jahre alt ist er, da kommt mitten in seinem normalen Alltag ein Tag, der für Abraham alles verändert. Das Buch Genesis erzählt es so:
Der Herr sprach zu Abram: Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde! Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. Durch dich sollen alle Sippen der Erde Segen erlangen. Da ging Abram, wie der HERR ihm gesagt hatte. (Genesis 12, 1-4)
Im vorgerückten Alter wird ihm ein Umbruch und Aufbruch zugemutet. Ich finde, dass sich viel von Abrahams Lebensgeschichte in den menschlichen Biographien aller Zeiten wiederfindet: Es geht um Aufbruch und Ankommen, um Vertrauen und Zweifel, Hoffnung und Resignation. Es geht um Segen, der empfangen und weitergegeben wird. Die biblischen Autoren erzählen davon, was es heißt, Gott zu vertrauen, wenn Umbrüche und Aufbrüche dran sind. Abraham vertraut Gott tatsächlich und macht sich auf den Weg. Unterwegs geraten er und seine Familie durchaus auch in Schwierigkeiten. Aber sie stehen zu ihrem Entschluss: sie wagen es, loszuziehen und etwas Neues anzufangen.
Mich regen Abraham und Sara regen immer wieder an, neugierig zu bleiben die Dinge und mich selbst verändern. Das ist auch besser, als nur zu jammern, dass die Zeiten früher schöner waren, alles immer schlechter wird und heute sowieso nichts mehr los ist. Die Geschichte dieser beiden Menschen sagt mir: ich kann jederzeit neue Horizonte entdecken und zuversichtlich nach vorn schauen. Mit Gott an der Seite fällt mir das umso leichter.
Dieser Gedanke steckt auch in einem Psalm der Bibel. Felix Mendelssohn Bartholdy hat einen Vers aus dem fünfundzwanzigsten Psalm für Tenor und Orgel vertont. Da heißt es:
Doch der Herr, er leitet die Irrenden recht, er lehret die Irrenden seinen Weg. Alle, die dich fürchten, Herr, du wirst sie unterweisen den besten Weg; und ihre Seele wird im Guten wohnen.
(Psalm 25, 9.12b-13a)
Musik 2:
Felix Mendelssohn-Bartholdy: Doch der Herr, er leitet die Irrenden recht (op. 112,1), CD: Der Herr ist mein Hirt. Psalmenvertonungen. Label Carus (19.075/99), Track 02, 02:32
Die Geschichte Abrahams sagt mir: Gott ruft immer wieder heraus aus dem, wie es ist, aus einem verklärten Blick auf die Vergangenheit. Gott lockt weg von dem, wie es früher war, was schon immer so gewesen oder was jetzt nun einmal üblich ist. Gott richtet den Blick nach vorn. Leben und Aufbruch, das gehört zusammen. Für Abraham war der Aufbruch ja ein ganz existenzielles Wagnis. Für die Menschen zumal in biblischer Urzeit hat sich wahrscheinlich die Abenteuerlust in Grenzen gehalten, wenn die gewohnten und vertrauten Sicherheiten auf dem Spiel standen. Das Fremde wird eher Angst gemacht haben, als dass es verlockt hätte. Die Gefahren waren ja auch viel größer. Was konnte einem auf weiten Wanderungen durch unbekannte Wüsten auch alles passieren!
Wir Heutigen haben es da leichter, jedenfalls dann, wenn wir freiwillig aufbrechen und zugleich das Vertraute nicht preisgeben müssen: Im Urlaub bekomme ich manchmal eine Ahnung davon, wie es ist, wenn Aufbrüche Wachstum schenken.
Wer das heimische Umfeld verlässt und mit wachen Sinnen unterwegs ist, der kann neu erleben, wie der Abstand zum Alltag wächst und neue Offenheit entsteht: für die Begegnung mit Menschen, für Eindrücke aus der Natur und nicht zuletzt auch für sich selbst und das eigene Leben.
In den allermeisten Religionen gibt es deswegen auch die Tradition des Pilgerns. Pilgern, das ist „Beten mit den Füßen“, so sagt es eine bekannte Redensart. Die Reisebranche hat längst einen Boom des Pilgerns ausgemacht. Sie schätzt: die Pilger der unterschiedlichen Weltreligionen unternehmen jedes Jahr 600 Millionen „religionsbedingte Reisen“ mit einem Umsatz von rund 18 Milliarden Dollar. Und ein Volkskundler fasst zusammen: „Überall ist Wallfahrt.“ Auch bei uns in Hessen wird das Pilgern immer beliebter. Auf der Bonifatiusroute, dem Elisabethpfad oder dem Lutherweg sind fast das ganze Jahr Pilgerinnen und Pilger unterwegs.
Auch die Bibel kennt die Tradition des Pilgerns. Im alten Israel war Jerusalem mit dem Zionsberg das Ziel des Pilgerns schlechthin. Jerusalem mit seinem Tempel galt im Judentum als der Ort, an dem Gott unter den Menschen seinen Wohnsitz genommen hat. Vierzehn Lieder aus dem Buch der Psalmen besingen in der Bibel die Wallfahrt nach Jerusalem. Gleich zwei Propheten in der Bibel beschreiben eine heilvolle Zukunft in den Bilder im Bild von einer gemeinsamen Pilgerfahrt aller Völker. Da heißt es:
„Am Ende der Tage wird es geschehen. Der Berg mit dem Haus des Herrn steht fest gegründet als höchster der Berge. Zu ihm strömen alle Völker. Viele Nationen machen sich auf den Weg.“
(Jesaja 2,2-4 und Micha 4,15)
Diese visionären Bilder aus der Bibel haben auch in der Musik Spuren hinterlassen. Hören Sie aus der Kantate „Jauchzet Gott in allen Landen“ von Johann Sebastian Bach das Sopran-Rezitativ „Wir beten zu dem Tempel an, da Gottes Ehre wohnet“.
Musik 3:
Johann Sebastian Bach: „Wir beten zu dem Tempel an”, CD: Bach Edition. Cantatas / Kantaten: BWV 51, 32 & 14. Label Brilliant Classics (99377/2), Track 02, 02:25 min
Wallfahrt und Pilgerschaft: Die gibt es natürlich in der Bibel nicht nur im Alten, sondern auch im Neuen Testament. Dort wird öfter davon erzählt, wie sich Jesus selbst als Pilger immer wieder zu den Hauptfesten nach Jerusalem aufmacht. „Sie zogen nach Jerusalem hinauf“, heißt es dann. Unterwegs sein als Pilger, das hat deswegen auch im Christentum Tradition.
Aufbrechen aus dem gewohnten Alltag, mal eine Zeit lang abtauchen, sich in der Fremde auf Neues einlassen, auf ein wichtiges Ziel zugehen und reich an Erfahrungen nach Hause kommen: darum geht es. Wer sich auf Pilgerschaft begibt, begegnet nicht nur der Natur oder anderen Menschen, sondern auch den eigenen Stärken und Schwächen. In all dem steckt auch die Chance einer Begegnung mit Gott.
Das Pilgern wurde auch immer wieder als Sinnbild für das Leben überhaupt gedeutet. Vor allem im Mittelalter hat man das Pilgern und die Wallfahrt so zusammengesehen: Solange ich auf Erden unterwegs bin, gehe ich meinen Weg wie ein Pilger auf der Wallfahrt: Ich weiß nicht, wie der Weg im Einzelnen verläuft, erlebe, wie er manchmal auch Unvorhergesehenes mit sich bringt. Manchmal geht es schwungvoll vorwärts, dann wieder eher steil bergauf. Wie auf einer Pilgerreise, so gibt es auch auf meinem Lebensweg steinige Etappen, und manchmal tut sich sogar ein Abgrund auf. Immer wieder muss ich mich als Pilger unterwegs entscheiden, wie es weitergehen soll. Ich gerate an Kreuzungen oder Abzweige. Da fällt es nicht immer leicht, auf Anhieb den richtigen Weg zu erkennen. Es ist sogar ziemlich wahrscheinlich, dass ich mich manchmal verlaufe und dann umkehren oder Umwege nehmen muss.
Die Kathedralbaumeister im Mittelalter haben das in ihren Labyrinthen ganz sinnfällig dargestellt. Im Fußboden der Kathedrale von Chartres kann man ein sehr bekanntes Labyrinth, eingelegt aus schwarzen und grauen Steinplatten, bewundern und auch begehen. Das ist dann wie im richtigen Leben: Ich denke, ich bin schon ganz nah in der Mitte am Ziel - und dann geht der Weg noch mal ganz nach außen und um drei andere Ecken.
Aber die Zusage Gottes steht: Er geht meinen Lebensweg mit und lässt mich auch nicht im Stich, wenn es brenzlig wird. Und zuletzt hat mein Lebensweg auch ein Ziel, so wie die Pilgerwanderung zum Wallfahrtsort führt, nämlich die ewige Gemeinschaft mit Gott.
Carl Philipp Emanuel Bach hat dieses Bild eines menschlichen Lebens als Pilgerreise musikalisch in einem geistlichen Lied gestaltet. „Ein Pilger bin ich in der Welt“.
Musik 4:
Carl Philipp Emanuel Bach: „Dieses und jenes Leben. Ein Pilger bin ich in der Welt“; CD „Carl Philipp Emanuel Bach – Johann Christoph Friedrich Bach. Geistliche und weltliche Lieder“ von Gotthold Schwarz und Sabine Bauer, Label Capriccio (18 856), Track 5, 03:01
„Wenn einer eine Reise tut“, diese Überschrift über dem Pfingstprogramm in
hr2-kultur bekommt für mich einen ganz besonderen Klang, wenn ich darüber nachdenke, was die Bibel zum Aufbruch sagt, oder wie Reisen, Pilgern und Leben zusammenhängen.
Ob Wallfahrten, Urlaubsreisen, Naturausflüge oder Städtetrips: Wenn wir aufbrechen, dann erleben wir fast nie nur Flüge, Fahrten und Fußmärsche zu bestimmten geografischen Punkten. Wir erleben nicht nur Neues um uns herum, sondern lernen manchmal auch uns selbst neu kennen. Schon im vierten Jahrhundert hat es jemand mal so ausgedrückt:
„Und es gehen die Menschen,
zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren Fluten des Meeres
und die weit dahinfließenden Ströme und den Saum des Ozeans
und die Kreisbahnen der Gestirne.
Und haben nicht acht ihrer selbst.“
Der Kirchenvater Augustinus hat diesen Satz in seinen „Bekenntnissen“ geschrieben. Zwei Erfahrungen habe ich beim Reisen gemacht, schon als Zehnjähriger und auch heute immer wieder: es ist gut, einen Ort zu haben, an dem ich zuhause bin und zu dem ich heimkommen kann. Und: jeder Aufbruch ist eine neue Begegnung mit mir selbst.
Gerade zu Pfingsten wünsche ich mir: Gottes guter Geist möge immer wieder Mut machen zu neuen Wegen. Mir selbst, aber auch meiner Kirche und unserer ganzen Gesellschaft. Mut zum Aufbruch, Mut zum Unterwegssein.
Musik 5:
Johann Sebastian Bach: Choralvorspiel „Auf meinen lieben Gott“ (BWV 646 / Schübler-Choräle), CD 11/ 12 „Bach. The organ works“, Helmut Walcha, Label Polydor International GmbH / Archiv Produktion 436 721-2, Track 06, 02:04