Geheimnisvolle Nacht - Zeit zum Grübeln, Gruseln und Glauben
Bevor irgendetwas wurde, war da das Nichts und das Nichts war dunkel, finster. So erzählt es der Schöpfungsbericht der Bibel.
„Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.“ (Genesis 1,3-5)
Tag und Nacht, diese beiden bilden fortan ein Paar, das den Grundrhythmus der Schöpfung bestimmt. Seit über vier Milliarden Jahren hat sich alles Leben der Erde darauf eingestellt. Allerdings sind die beiden ein sehr ungleiches Paar. Die Nacht erscheint auf den ersten Blick langweiliger als der Tag. Nachts schläft man doch nur. Doch bei näherem Hinsehen merkt man: Die Nacht ist vielseitig und geheimnisvoll – eine Zeit zum Grübeln, Gruseln und Glauben. Das wird der folgende Streifzug durch die Nacht zeigen.
Tag und Nacht – beide werden gebraucht. Beide entspringen dem Schöpferwillen. Dennoch sind sie nicht gleichwertig. In der Bibel heißt es: „Gott sah, dass das Licht gut war.“ Das Licht steht für Durchblick und Überblick. Die Nacht wird dagegen eher als negativ empfunden, vielen macht sie Angst. Oft wird das Dunkel der Nacht gleichgesetzt mit Gefahr und mit dem Bösen. Verwunderlich ist das nicht. Man muss sich nur vorstellten, wie die Nächte ursprünglich waren und wie sie in vielen Gegenden der Welt bis heute noch sind: wirklich dunkel, schwarz wie die Nacht. Kein Lichtschalter in greifbarer Nähe, keine Laterne tauchte die Straße in beruhigendes Licht. Umfassend regierte die Nacht über das Leben. Oft waren die Nächte so dunkel, dass man nichts sehen konnte. Man war praktisch hilflos.
Jahrtausende lang spürten die Menschen ganz direkt, wie sehr sie darauf angewiesen waren, dass der nächste Tag kommt und mit ihm auch das Licht. Wenn der Morgen dann kam, beteten und sangen sie ihre Erleichterung darüber zu Gott. Dieses Gefühl beschreibt das Lied „Die güldene Sonne“ in seiner zweiten Strophe so:
„Nun sollen wir loben
den Höchsten dort droben,
dass er uns die Nacht
hat wollen behüten
vor Schrecken und Wüten
der höllischen Macht.“
Die dunkle, böse Nacht und der helle, gute Tag. Damit kann man vieles im Leben deuten und einteilen in Gut und Böse. Dieses Schwarz-Weiß-Denken ist verführerisch, weil es einfach ist. Ich finde allerdings: meistens zu einfach. Doch ordnet auch die Bibel das Licht oft Gott zu und die Dunkelheit der Gottferne. Der Epheserbrief mahnt die Christen:
„Früher wart ihr Finsternis, nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Wandelt also als Kinder des Lichts. Die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit. Prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist und habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis.“ (Epheser 5,8-11)
Musik: Simon Wawer, Morgengesang
Die Nacht kann man nicht so einfach abtun als die dunkle, böse Seite. Im Gegenteil. Auch Gott ist nachtaktiv. Die Nacht führt viele Menschen sogar besonders nahe an das Geheimnis Gottes heran. Dafür hält die Nacht ein kostbares Geschenk bereit: die Sterne, die ihr Licht aus den Tiefen des dunklen Weltalls zur Erde werfen. Unzählig viele sind es und sie sind ungeheuer weit weg. Seit jeher rührt der Sternenhimmel viele Menschen an. Sie schauen hinauf, sie staunen und sie beobachten. Dabei haben sie allmählich festgestellt: Die Sterne kommen und gehen – und sie kommen wieder. Sie folgen einer festen Ordnung. Daraus folgerten die Menschen: Alles Sein ist Teil einer großen Ordnung. Auch wenn der irdische Alltag oft chaotisch wirkt, so ist dennoch alles Leben Teil von etwas Größerem. Es gehört zur Schöpfung Gottes und hat darin einen unverbrüchlichen Sinn – also auch das eigene Leben. Im Dunkel der Nacht, im Angesicht des unendlichen Universums wurden die Menschen Gottes gewahr – und ihrer selbst. Das Staunen darüber bringt Psalm 148 in diese Worte:
„Lobt im Himmel den Herrn, lobt ihn in der Höhe. Lobt ihn, Sonne und Mond, lobt ihn, alle leuchtenden Sterne! Die sollen loben den Namen des Herrn, denn er gebot, da wurden sie geschaffen. Er lässt sie bestehen für immer und ewig. Er gab eine Ordnung, die dürfen sie nicht überschreiten.“ (Psalm 148,1.2-5)
Die Beobachtung der Sterne gehört zu den ersten Kulturleistungen der Menschheit. Allerdings: In vielen Regionen der Welt, insbesondere bei uns in Deutschland sind die Sterne inzwischen kaum noch zu sehen. Sie verblassen hinter den Lichtglocken der Städte. Der Weg zu so viel künstlichem Licht war lang. Er begann vor 20.000 Jahren mit den ältesten Lampen der Menschheit: Öllampen. Schwache Funzeln nur, aber immerhin schon ein kleiner Aufstand gegen die Allmacht der Nacht. Eine viel größere Revolution kam viel später: das elektrische Licht. Seit etwa 1880 steht es zur Verfügung. Licht – wann immer ich will und auf Knopfdruck! Diese Errungenschaft hat das Leben radikal verändert.
Arbeiten und Feiern sind nun rund um die Uhr möglich, Leuchtreklamen prägen die Innenstädte. Immer stärker. Die Lichtleistung der Lampen nimmt derzeit um 50 Prozent pro Jahr zu. Sie erleuchten die Ballungsräume der Welt – sichtbar bis ins Weltall. Mit diesem Licht kann man die Nacht zum Tag machen. Ein großer Schub an Freiheit. Aber auch ein Verlust, denn an vielen Orten sind die Sterne kaum noch zu sehen. Sie können also auch nicht mehr den Weg weisen, weder zu Gott und noch in die Tiefe des Lebens. Inzwischen gibt es spezielle Sternenparks, etwa in der Rhön und in der Eifel. Diese Regionen reduzieren bewusst die Lichtmenge und sorgen dafür, dass die Lampen nur dorthin strahlen, wo das Licht wirklich gebraucht wird. Auf diese Weise kann man dort die Sterne wieder sehen und eine richtige Nacht mit all ihrem Zauber und ihrem Geheimnis erleben.
Das ist auch gut für die Tiere. Für viele von ihnen ist das nächtliche Kunstlicht ein ernstes Problem. Vögel kommen dadurch von ihrem Weg ab. Fische erleben beleuchtete Brücken als Barriere auf ihrem Weg fluss-aufwärts. Insekten sterben an den Straßenlaternen. In einer Sommernacht sind das etwa 150 Tiere pro Lampe. Und acht Millionen davon gibt es in Deutschland. Biologisch gesehen strotzt die Nacht vor Aktivität. Ein Drittel aller Wirbeltiere und zwei Drittel der wirbellosen Tiere sind nachts aktiv.
Musik: Claude Debussy, Claire de lune
Nachts kann man dem Geheimnis Gottes auf die Spur kommen. Nicht nur in den Sternen, auch ganz persönlich. Davon erzählt die Bibel in vielen Geschichten. Eine handelt von Jakob. Jakob ist ein Schlitzohr. Er täuscht seinen blinden Vater und raubt dadurch seinem älteren Bruder den väterlichen Segen, der eigentlich für diesen als den Erstgeborenen bestimmt ist. Das kommt natürlich heraus und Jakob muss fliehen. Alles muss er hinter sich lassen. Allein zieht er dahin. Er legt sich irgendwo schlafen, ein Stein dient ihm dabei als Kopfkissen. Damit beginnt die Nacht, die Jakob nie vergessen wird.
„Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. Und der Herr stand oben darauf und sprach: Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott. Siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.“ (Genesis 28,10-15)
Jakob ist tief beeindruckt und getröstet von diesem Traum. Dabei hatte er sich doch nur hingelegt, um das zu tun, was die meisten Menschen in der Nacht tun: schlafen, also ausruhen und Kraft schöpfen für den nächsten Tag. Doch im Schlaf geschieht weit mehr: Das Gehirn sortiert sich neu und die Seele lässt die Erlebnisse des Tages nachklingen. Die Nacht ist eine aktive und kreative Zeit - auch bei denen, die äußerlich nur ruhen. Schlaf ist ein Lebensmittel, ein Glücksfaktor. Schlafentzug ist eine Folter.
Einschlafen und gut durchschlafen – damit haben viele allerdings Probleme. Ruhelos wälzen sie sich herum. Jeder sechste in Deutschland kämpft heute mit Schlafproblemen. Oft liegt das nicht einmal am eigenen Stress, sondern schlicht an zu viel Licht und Lärm. Beides ist schädlich. Besonders bei Nacht. Da tun Stille und Dunkelheit gut, sogar not. Deshalb tobt an manchen Orten ein Kampf um die Nacht: Nachtflugverbot an Flughäfen, Tempolimits auf Straßen, Sperrstunden für öffentliche Veranstaltungen.
Nicht schlafen können. Das kennt auch Jakob. Die Bibel erzählt, wie ihn nachts die Angst umtreibt. Dabei begegnet er Gott erneut. Dieses Treffen findet viele Jahre nach dem ersten statt und verläuft ganz anders. Inzwischen hat es Jakob in der Fremde zu Wohlstand gebracht. Als gemachter Mann will er nun wieder nach Hause zurückkehren und sich mit seinem Bruder versöhnen.
Doch auf dem Weg nach Hause treibt ihn die Angst um. Unruhig geistert er alleine durch die Nacht. Da begegnet ihm eine dunkle Gestalt. In ihr erkennt Jakob Gott. Die beiden packen einander in einem zähen Ringkampf, den keiner von beiden gewinnen kann.
„Da rang einer mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Und als er sah, dass er ihn nicht übermochte, rührte er an das Gelenk seiner Hüfte und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt. Und er sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du gesegnet mich denn. Und er segnete ihn daselbst.“ (Genesis 32,23ff)
Musik: Johann Sebastian Bach, Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn
Eine besondere Stimmung umgibt die Nacht. Sie öffnet Menschen für die Sehnsucht nach Gott. Sie lüftet etwas von Gottes Geheimnis. Zugleich auch etwas von den seelischen Abgründen des Menschen. Kein Wunder, dass nachts ein ganzer Kosmos mythischer Nacht-Gestalten erwacht. Er verkörpert etwas von dem, was Menschen bei Tag meist erfolgreich verdrängen. Pünktlich zur Geisterstunde um Mitternacht steigen angeblich die Vampire aus ihren Särgen. Bevorzugt beißen sie junge Frauen in den Hals – erotisches Knistern inklusive. Bei Vollmond ziehen angeblich die Werwölfe umher. Mischwesen aus Mensch und Tier, somit ein Sinnbild für das Tier im Menschen, für die Sehnsucht nach animalischer Kraft, nach Aggression und Überlegenheit.
Derartige Phantasien sind uralt. Schon die Babylonier kannten Werwölfe. Auch der Künstler Lukas Cranach, ein Freund Martin Luthers, hat sie gemalt. Hieronymus Bosch schuf in seinen Bildern ein ganzes Bestiarium an Schauergestalten. Bildgewordene Alpträume, vor denen die Menschen im Mittelalter eine Höllenangst hatten. Später änderte sich das. Der Grusel wurde zum Groschenroman.
Heute bietet das Fernsehprogramm nahezu allabendlich Horror-Geschichten. Aber es ist nur ein wohliges Gruseln, bei dem man sich selbst in Sicherheit wähnen darf.
Insbesondere an Wochenenden ziehen viele Nachtschwärmer durch die Städte. Im Nachtleben hoffen sie zu finden, was ihnen der Tag noch vorenthielt. Sowohl die Gemeinschaft als auch die Einsamkeit fühlen sich nachts intensiver an als am Tag - sei es bei romantischem Kerzenschein oder im Farbspektakel greller Scheinwerfer.
Doch längst nicht alle, die nachts aktiv sind, tun das wirklich freiwillig und gerne. In Deutschland gehen derzeit etwa sechs Millionen regelmäßig zur Nachtschicht – zum Beispiel in Kliniken, bei Polizei und Feuerwehr, im öffentlichen Nahverkehr und in der Produktion, bei der Post und in der Gastronomie. Wenn etwas über Nacht passiert, dann hat dafür meist irgendwo jemand nachts gearbeitet. Anstrengend ist das. In Deutschland schlafen viele zu wenig. Sie sind überarbeitet und kommen nicht genug zur Ruhe.
Musik: Gabriel Fauré, Élégie
Die Nacht steckt voller Geheimnisse, voller Grübeln, Gruseln und Glauben. Da ist nur logisch, dass auch zentrale Ereignisse im Leben Jesu nachts stattfinden. Das beginnt schon mit seiner Geburt. Die Bibel erzählt in der Weihnachtsgeschichte, dass Jesus nachts in einem Stall bei Betlehem geboren wurde. Die ersten, die davon hören, sind ein paar Hirten.
„Und es waren Hirten in der derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden. Die hüteten des Nachts ihre Herde. Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie. Und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht. Siehe ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“ (Lukas 2,8-11)
Das alles muss den Hirten sehr geheimnisvoll vorgekommen sein. Offenbar spüren sie dennoch sofort, dass sich in dieser Nacht etwas Besonderes ereignet: In Jesus wird Gott menschlich. Und zwar nicht stark wie ein Held. Sondern schwach und schutzbedürftig wie ein Kind.
Dieses Kind Jesus wächst heran zu einem etwa 30-jährigen Mann und der erlebt viele bedeutsame Nächte. Die wichtigsten stehen am Ende, als sich die Ereignisse geradezu überschlagen. Zur Nacht versammelt sich Jesus mit seinen Jüngern zu einem Festmahl. Fröhlich sitzen sie zusammen in einem Dachgeschoss und feiern das Passafest. Ich stelle mir vor, dass der Abendwind milde Luft herein fächelt. Dann wird Jesus ernst.
„Als sie aber aßen, nahm Jesus das Brot, dankte, brach´s und gab´s den Jüngern und sprach: Nehmet, esset, das ist mein Leib. Und er nahm den Kelch und dankte, gab ihnen den und sprach: Trinkt alle daraus, das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.“ (Matthäus 26,17ff)
Die Bibel überliefert nicht, wie die Jünger reagierten. Sicher konnten sie in diesem Moment noch gar nicht abschätzen, was da genau geschah. Immerhin erleben sie, wie Jesus das begründet, was wir heute Abendmahl nennen. Jesus zeigte ihnen, wie sie ab jetzt Gott nahekommen können und wie Gott ihnen im Abendmahl nahekommen will. Bis heute. Direkt nach diesem Festmahl, noch in derselben Nacht, erlebt Jesus seine wohl tiefste Krise. Mit Simon und zwei anderen Jüngern geht er in den Garten Gethsemane. Dort ringt er mit seiner Angst vor dem Tod und mit seiner Sehnsucht nach Gott.
„Und Jesus sprach zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis in den Tod. Bleibt hier und wachet bei mir. Und er ging ein wenig weiter, fiel nieder auf sein Angesicht und betet und sprach: Vater, ist´s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber. Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ (Matthäus 26,37f)
Fühlt sich Jesus in diesem innigen Moment Gott besonders nahe? Oder von Gott verlassen? Vielleicht beides zugleich. Die Jünger verpassen diesen nächtlichen Moment allerdings, sie sind eingeschlafen. Dann kommen die, die Jesus verhaften, foltern und töten werden.
Doch am Ende behält nicht der Tod das letzte Wort: Als einige Jüngerinnen am Morgen zum Grab Jesu kommen, finden sie es leer vor. In der Nacht muss etwas Großes geschehen sein. Geheimnisvolle Nacht: Nicht nur eine Zeit fürs Grübeln, Gruseln und Glauben. In der Nacht steht neues Leben auf.
Musik: Kay Johannsen, Heut triumphiert Gottes Sohn
Quellennachweis für Fakten:
Mathias R. Schmidt und Tanja Gabriele Schmidt (Hrsg.), „Rettet die Nacht – die unterschätze Kraft der Dunkelheit“, München 2016.