Alte Bücher
Meine Mutter war Deutschlehrerin. So bin ich mit Büchern aufgewachsen. Immer gab‘s Buchgeschenke. Zum Geburtstag. Zu Weihnachten. Wenn ich krank war. Als ihre Mutter, meine Oma, starb, erbte ich als Kind einige Bücher. Die waren dunkel. Schwarze Einbände. Goldene Schrift. Dick und ohne Bilder. Ich weiß noch, dass ich als Kind enttäuscht war über diese Erbstücke. Aber sie sind immer mit mir umgezogen. Aus dem Elternhaus. Zu verschiedenen Studienorten. Manchmal, um Geld zu sparen, habe ich diese alten Bücher wie Backsteine genutzt. Hingelegt, aufgestapelt und ein Brett draufgelegt. Eben als Regal. Weggeschmissen habe ich sie nicht. Manchmal hat mich eine Widmung im Buch davon abgehalten. Keine für mich. Aber etwas Handschriftliches von der Oma. Alte Bücher erzählen. Mir jedenfalls. Etwas.
Irgendwann habe ich angefangen, die Bücher von der Oma aufzuschlagen. Kapitel gelesen. Oft sind es fromme Bücher. Bücher mit Andachten. Erbauungsliteratur. Die Oma hat darin Zeilen mit Bleistift am Rand markiert, Sätze unterstrichen. Da bin ich dann wirklich neugierig. Ich lese ihre Schrift und versetze mich ins Früher. Wieso fand sie gerade das so nachdenkenswert?
Aus manchen Seiten fallen kleine Einmerk-Zettel heraus. Diese Seiten lese ich dann genauer. So ein Satz wie: „Wir woll'n nach Arbeit fragen, wo welche ist, nicht an dem Amt verzagen, uns fröhlich plagen und unsre Steine tragen aufs Baugerüst.“ (Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, 1700-1760) Mit diesen Worten im Herzen hat sie manches Schwere durchgestanden. Ich vermute, weil darin vorkommt: Ja, es ist Plackerei und Steinetragen. Aber das ist für ein Baugerüst. Etwas Neues entsteht, und dafür lohnt sich die Mühe. Die Anmerkungen meiner Oma sind für mich eine Brücke. Eine Brücke über die Zeit, die uns trennt. Sie helfen mir, ihre Generation ein bisschen zu verstehen. Zwei Kriege. Bombennächte im Ruhrgebiet. Hamsterfahrten. Schöne Dinge weggetauscht für Lebensmittel. Hunger.
Die alten Bücher, schwarze Einbände, goldene Schrift auf dem Einband, nehme ich nun öfter in die Hand. Wahrscheinlich, weil ich nun auch älter bin. Lebenserfahrung von vorgestern. Und: was meiner Oma Mut gab. Kraft. Zuspruch. Vielleicht mir heute auch.