Ein neuer Blick
Der Rotstift liegt nicht mehr auf ihrem Schreibtisch. Aber meine Tante bleibt eben doch eine Lehrerin. Auch im Ruhestand. Ein Leben lang hat sie Schüler verbessert und korrigiert, hat auf Fehler und Rechtschreibung geachtet. Und das prägt. Das prägt sie bis heute. In Gesprächen geht’s eigentlich immer um die Frage: Was ist richtig oder falsch? Was ist schiefgelaufen? Was könnte besser sein? Sekundenschnell sieht sie, was fehlt.
Aber jetzt hat meine Tante etwas Neues entdeckt. „Da war so eine neue Idee in einem Kalender. Tolle Gedanken“, sagt sie, „das Blatt musste ich aufheben“, und ihre Stimme klingt ganz weich. Ich bin gespannt, was sie mir zeigen will. Sie liest vor: „Es regnet? - Wunderbar, dann brauche ich den Garten nicht zu gießen.“ Oder: „Der Bus hat sich verspätet! - Gut, dann bin ich länger an der frischen Luft.“ Und so weiter. Oha, so kann man das Leben auch betrachten? Das ist neu und ungewohnt. Das ist geradezu aufregend. Und ansteckend. Denn einmal dazu angeregt, haben wir noch eine ganze Weile weitergemacht und eigene Ideen gefunden: „Stau? – Eine Pause, mit der ich nicht gerechnet habe“. „Kein Brot im Haus? - dann esse ich Haferflocken zum Frühstück. Oder Reis wie in Asien.“ „Tasse runtergefallen? – Scherben aufkehren ist der neue Frühsport.“ Wir hatten eine Menge Ideen, alberne und ernste. Es hat vor allem meiner Tante Spaß gemacht, diesen neuen Blick auf Ereignisse auszuprobieren. Denn auf den ersten Blick würde sie, so wie sie gestrickt ist, ja schon sagen: „Tasse runtergefallen? Mist, jetzt hab ich auch noch Scherben in der Küche.“ Aber mit diesem andern, dem zweiten Blick, wird manches irgendwie leichter: Könnte ich der Situation noch eine andere Seite abgewinnen? Muss ich mich wirklich nur ärgern? Will ich mich eigentlich so viel ärgern? Für meine Tante war es ganz neu, dass sie selbst häufig darüber entscheiden kann, ob sie sich ärgert oder nicht. Allerdings mit einer Einschränkung: Die Anregung zu diesem anderen Blick ist keine Anleitung zum einem naiven positiven Denken…was Leid ist, bleibt Leid. Schmerzen bleiben Schmerzen. „Schönreden“ von schwierigen Situationen verbietet sich von selbst.
Auch wenn wir viel gelacht haben: für meine Tante ist diese neue Entdeckung ziemlich ernst. In ihr ist was passiert. Eine neue Perspektive auf ihr Leben. Und sie hat etwas geahnt von der Lebensqualität, die da für sie auch drin liegt. Sie und ich, wir üben weiter diesen neuen Blick.