Das Wichtigste gibt´s nur als Geschenk
Ich bin heute Morgen ein wenig zögerlich, Ihnen mitzuteilen, um was es in dieser Morgenfeier gehen soll. Denn ich weiß von vielen meiner evangelischen Mitchristen, dass sie das Wort jetzt erst mal nicht mehr hören können. Ein ganzes Jahr lang landauf landab und immer wieder: Luther hier und Luther da. Sie sagen: Mit Luther muss es jetzt auch mal wieder gut sein. Und ich kann das auch irgendwie verstehen.
Jedoch, ich muss sagen, ich für meine Person, empfinde bei Luther noch keinen Überdruss. Denn in meiner Kirche, der Martinskirche in Kassel, gab es im letzten Jahr so viel anderes zu feiern, dass Luther bei uns fast gar nicht vorkam. Und so kommt es, dass ich selber Luther noch nicht leid bin. Ja, im Gegenteil. Und was mir bei meinem Interesse an Luther entgegen kommt, ist auch die andere Jahreszahl: 2018. Denn erst in diesem Jahr gibt es ein Jubiläum zu feiern, dass mir persönlich viel wichtiger erscheint, als das Jubiläum vom letzten Jahr.
Erst 1518, also genau vor 500 Jahren, machte Martin Luther seine entscheidende theologische Entdeckung. Ein Erlebnis, das zu einem Wendepunkt in seinem Leben wurde. Ein Erlebnis aber auch, dass die gesamte christliche Theologie entscheidend beeinflusst hat. Heute Morgen möchte ich Ihnen von Luthers großer Entdeckung erzählen.
Im Jahr 1545, ein Jahr vor seinem Tod, blickt Martin Luther auf sein Leben zurück. Neben den vielen Auseinandersetzungen und Kämpfen, die er zu bestehen hatte, schildert er da auch sein intensives Ringen in den Fragen des Glaubens. Und er berichtet von einem Durchbruch in seiner theologischen Erkenntnis, die sich 1518, vor genau 500 Jahren, zugetragen haben muss. Er beschreibt das Erleben mit folgenden Worten:
Da hatte ich das Empfinden, ich sei geradezu von neuem geboren und durch geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten. Da zeigte mir sofort die ganze (Heilige) Schrift ein anderes Gesicht.
Ein Offenbarungserlebnis muss das für Luther gewesen sein. Später nannte man das Ereignis auch Luthers Turmerlebnis. In verschiedenen Tischreden hatte Luther nämlich immer wieder davon gesprochen und gesagt: Im Kloakenturm seines Hauses in Wittenberg, da sei es gewesen, dass ihm diese Erkenntnis gekommen sei.
Mit der theologischen Entdeckung war etwas Neues in sein Leben getreten. Und um das Neue zu unterstreichen, veränderte Luther sogar seinen Namen. Denn eigentlich war sein Name Martin Luder. So hieß er ein halbes Leben lang, und so nannte er sich auch noch bis zum Herbst 1517. Zwischenzeitlich nannte er sich dann Eleutherios, was griechisch ist und übersetzt der Freie oder der Befreite bedeutet. Und aus Eleutherios mit dem harten „t“ in der Mitte wurde dann der Name Luther!
Bei der Veränderung seines Namens hat Luther vielleicht an Paulus gedacht. Vor dessen Bekehrung zu Christus hieß der bekanntlich auch anders, nämlich Saulus. Und so wie aus Saulus Paulus wurde, weil etwas Umstürzendes in seinem Leben passiert war, so wurde aus Martin Luder Martin Luther. Ein neuer Mensch war geboren, so wie er es selber sagte:
„Da hatte ich das Empfinden, ich sei geradezu von neuem geboren und durch geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten.“
Was aber war das Neue, das sich Luther offenbart hatte? Es war die Erkenntnis: mein Seelenheil erlange ich nicht durch irgendwelche Taten – und wären sie auch noch so richtig und gut und edel. Vielmehr: Mein Seelenheil erlange ich allein dadurch, dass ich mich beschenken lasse. Luther erkannte: Christus ist das große Geschenk, das Gott allen Menschen und der ganzen Welt gemacht hat. Und wenn ich mich im Glauben mit Christus vereinige, dann kann mir nichts mehr passieren. Dann bin ich mit Christus schon gestorben und auferstanden. Ich bin ein freier Mensch.
Allein auf den Glauben an Christus kommt es an. Das erkannte Luther jetzt. Und dass dieser Glaube, so wie Christus selbst, nur als Geschenk zu haben sind. Ich kann nichts dafür tun und ich muss nichts dafür tun.
Der biblische Begriff, mit dem Luther da gerungen hat, war der der Gerechtigkeit Gottes, ein Begriff, der für uns heute nur mehr schwer unmittelbar zu verstehen ist. Aber der Inhalt, um den es geht, ist heute so wichtig wie damals.
Im Frühjahr 1518 bringt Luther seine neue theologische Entdeckung in seiner sogenannten Heidelberger Disputation so auf den Punkt:
„Nicht der ist gerecht, der viele Werke tut, sondern wer ohne Werke viel an Christus glaubt.“
Und weil das so ein Hammersatz ist, will ich ihn gleich nochmal wiederholen:
„Nicht der ist gerecht, der viele Werke tut, sondern wer ohne Werke viel an Christus glaubt.“
Selbst mit dem Abstand von 500 Jahren kann man in diesem scharf formulierten Satz noch das Neue, ja vielleicht sogar das Skandalöse, heraushören. Und die Frage ist: Wie sollen wir das verstehen? Heißt das, dass Gott unsere Werke und Taten gar nicht interessieren? Heißt das, es ist Gott egal, ob wir uns gut verhalten oder schlecht? Heißt das, gute Werke und Taten sollen für unser christliches Leben gar keine Rolle spielen?
Doch, sagt Luther. Das alles spielt durchaus eine Rolle. Aber was am Wichtigsten im Leben ist, das will Gott dir schenken. Das gibt es nur als Geschenk.
Lassen Sie uns diesem Gedanken einmal nachgehen und lassen Sie uns schauen, wie der Gedanke wohl in unser Leben heute passen könnte.
Was Martin Luther vor 500 Jahren umgetrieben hat, war die Frage nach dem Seelenheil: Was muss ich tun, damit ich zu der Gewissheit gelange: Gott ist mir gut, ich muss mich nicht fürchten?
Und die Erkenntnis, die Luther nach langem inneren Ringen gefunden hat, lautet: Ich muss gar nichts tun, um von Gott angenommen zu sein. Ich muss nur glauben, dass ich mit Christus verbunden bin. Er ist Gottes großes Geschenk. Und dieses Geschenk gibt es ganz umsonst.
Wenn ich mich nun heute fragen: Was ist für uns besonders wichtig? Welche Frage brennt uns ganz besonders unter den Nägeln? Was treibt uns immer wieder um und lässt uns mitunter nicht zur Ruhe kommen? - so würde ich sagen: Bei uns ist es die Frage nach dem gelingenden Leben.
Wie muss ich leben, damit mein Leben gelingt? Was muss ich tun, damit ich das Leben nicht verpasse? Wie stelle ich es an, dass mein Leben gut läuft? Dass ich spüren kann: Ich bin auf dem richtigen Weg?
Da gibt es die Suche nach dem Leben, das uns satt macht. Nach dem Leben, das unsere Sehnsucht stillt.
Und so mühen viele sich ab und strengen sich an in vielfältiger Weise, um das zu erreichen: Das gute, das gelingende Leben. Ich gebe Ihnen ein paar Beispiele.
So mancher Single, ist es leid, allein zu leben. Er schmiedet Pläne, wie er endlich das Ersehnte erreichen kann, einen geliebten Menschen an seiner Seite. Und er ist überzeugt: Nur wenn ihm das gelingt, einen Partner oder eine Partnerin für sich zu gewinnen, nur dann wird er das Leben nicht verpassen; nur wenn er in einer Beziehung lebt, wird alles gut sein. So denkt er.
Eine andere sehnt sich vielleicht nach nichts so sehr, wie nach dem Ende einer Krankheit. Und sie unternimmt viel, um das erleben zu können: Ein Leben in einem gesunden Körper. Und sie ist überzeugt: Nur als gesunder Mensch wird alles gut sein. Nur dann kann das Leben gelingen.
Und wiederum ein anderer sucht sein Leben möglicherweise in gesellschaftlichem Ansehen und in einer gemachten Karriere. Männer und Frauen strampeln sich ab, um das erleben zu können: Ich komme an bei den Leuten. Man blickt auf zu mir. Aber er denkt vielleicht auch: So richtig gelungen wird das Leben aber erst ganz oben auf der Karriereleiter sein. Dann erst hab‘ ich’s geschafft. Dann ist das Leben gemacht.
Mir selber sind all diese Wünsche nicht fremd. Ich weiß, wie es einem geht mit dem Gefühl: Da fehlt noch was. Meine Lebenssehnsucht ist noch nicht gestillt.
Die Beispiele haben vielleicht zeigen können, wie vielfältig unsere Bilder und Vorstellungen von gelingendem Leben sind. Ganz unterschiedlich unsere Taten und Anstrengungen, um das Ersehnte, das erfüllte Leben, zu erreichen.
Jedoch, und hier kommt nun Luthers neue Entdeckung ins Spiel: Die rechte Antwort auf unsere Frage „Wie stillen wir unsere Lebenssehnsucht?“ können wir durch bloße Anstrengung und durch Tun und Machen nicht bekommen. Immer wieder stellt sich da Frustration ein und das Erleben: So geht das nicht. Oder: Das aber kann doch noch nicht alles gewesen sein; da muss es doch noch mehr geben! Es stimmt eben nicht, was das Sprichwort sagt „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“. Denn das Glück lässt sich nicht allein durch Anstrengung selber schmieden.
Aber ich kann offen sein für das Glück, und ich kann es da ergreifen, wo es auf mich zukommt. Und das kann gewissermaßen überall sein. Durchaus auch im erfüllten Tun und Machen und in einer Anstrengung ohne Verbissenheit, einer Anstrengung, die Freude macht.
Martin Luther, wir haben es gehört, hat sich „der Befreite“ genannt. Denn er hatte eine befreiende Entdeckung gemacht. Ihm war aufgegangen: Das Wesentliche im Leben gibt es ganz umsonst. Alles Wesentliche gibt es nur als Geschenk! Ohne unser Zutun und ohne alle Bedingungen. Was wir am wichtigsten zum Leben brauchen, das können wir uns nicht selbst erschaffen. Aber als Geschenk können wir es annehmen.
Das Befreiende von Luthers Entdeckung lag darin, dass der Steuerungshebel für sein Leben umgelegt wurde. Stand der Hebel vorher noch auf „Tun und Machen“, stand er nun auf „Empfangen und Sich-schenken-lassen“. In der theologischen Sprache Luthers hieß diese neue Haltung „justitia passiva“, die passive Gerechtigkeit: der Mensch wird vom Macher zum Empfänger. In einer passiven, empfangenden Haltung erlebt der Mensch das Leben neu.
Das heißt für mich, wir können nun loslassen und das Leben finden in dem, was uns entgegen kommt. Und das bedeutet auch: In jedem Moment unseres Lebens steckt potentiell das ganze volle Leben. Ach, wenn wir doch dieses Geschenk nur immer annehmen könnten! Aber da, wo das geschieht, wo wir loslassen und uns öffnen können, da erleben wir tatsächlich Beglückung und Lebenssinn und Dankbarkeit gegenüber dem Geber dieser Gaben.
Der Begriff der passiven Gerechtigkeit weist aber auch noch auf etwas anderes wichtiges hin. Es ist der Hinweis auf die Passion und auf das Leiden. An Jesus und an seiner Passion können wir erkennen, wie ein Leben aussehen kann, das ganz aus dem lebt, was Gott ihm schenkt. Ein Leben ganz aus Gott. Und an dem Leben Jesu sehen wir dann auch, dass zu diesem Leben auch das Leiden gehört. Und wir sehen an Jesus: Selbst das Leiden nimmt er als eine Gabe Gottes an. Leben selbst im Leiden. Empfangender sein, selbst wenn es weh tut.
Das ist nicht leicht zu verstehen. Und ist auch leicht misszuverstehen. Aber es ist dennoch die letzte Konsequenz aus dem, was für Luther die große Entdeckung war: Das Wichtigste im Leben bekommen wir geschenkt. Ich sage JA zum Leben, wie es jetzt ist. Ich nehme es an von Gott.
Ich selber habe schon oft ein Gefühl der Befreiung erlebt, wenn ich endlich loslassen konnte von meinen Kämpfen und Anstrengungen. Wenn es mir endlich leichter wurde und ich umschalten konnte vom Tun aufs Empfangen.
Seien wir also offen für das, was auf uns zukommt. Und seien wir mutig, das Leben da zu ergreifen, wo es sich uns schenkt.