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Wer sucht, der findet
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Wer sucht, der findet

Vera Langner
Ein Beitrag von Vera Langner, Evangelische Pfarrerin, Ober-Ramstadt

Musikkonzeption: Uwe Krause

„Kind, hast du meine Brille gesehen?“, so habe ich meine Großmutter noch immer im Ohr. Sie war oft ganz verzweifelt, weil sie entweder die eine oder die andere Brille suchte. Als Kind konnte ich ihr die größte Freude machen, wenn ich die gesuchte Brille nach kurzer Zeit fand und ihr brachte. Und natürlich war ich jedes Mal mächtig stolz über meinen Erfolg und ihre dankbare Freude.
Heute suche ich öfter mal die eigene Brille. Brillen, Schlüssel, Portemonnaies, das sind wohl die Gegenstände, die immer mal wieder gesucht werden müssen, weil ohne sie etwas Entscheidendes fehlt. Ohne Brille kann ich nicht mehr lesen, ohne Schlüssel steh ich vor verschlossener Tür, ohne Portemonnaie kann ich nicht einkaufen. Es ist also notwendig, das Verlorene zu suchen und zu finden. Und manchmal ist es zum Verrücktwerden, weil der vermisste Gegenstand wie vom Erdboden verschluckt zu sein scheint. Hatte ich die Brille nicht genau hierher gelegt? Und jetzt ist sie nicht mehr da. Die Suche kann nervenaufreibend werden, sogar Ängste auslösen oder in Selbstzweifel führen. „Bin ich noch ganz klar im Kopf?“ Aber dann heißt es geduldig zu suchen, auch wenn es viel Zeit kostet, Energie braucht und manchmal die Hilfe anderer, damit am Ende doch noch die Suche erfolgreich ist.
„Findemeister“, so habe ich meine Tochter früher genannt. Denn sie war oft in der Lage, Dinge zu finden, die ich gerade verzweifelt suchte. Vielleicht hat sie die Welt mit ihren Kinderaugen anders gesehen, sodass sie leichter fand, was ich suchte. Vielleicht hatte ich selbst als Kind noch einen anderen Blick auf die Welt, und konnte deshalb der Großmutter bei der Suche nach der Brille behilflich sein.
Suchen und Finden – vielleicht ist das ja sogar ein Grundmotiv unseres Lebens.

Musik:
Francis Poulenc
3 Mouvements Perpétuels, 1. Assez Moderé
Charles Dutoit, French National Orchestra Soloists

Ich wusste genau, dass ich den Schulschlüssel immer in das hintere Fach meiner großen Handtasche steckte, – aber jetzt war er weg. „Schau doch noch mal gründlich nach! In den dunklen Abgründen deiner schwarzen Tasche wird er sich schon finden!“ Ein Satz meines Mannes war das, tröstend und spöttisch zugleich, – half aber auch nicht weiter. Dreimal leerte ich die Tasche komplett aus. Es fand sich vieles drin, – aber kein Schulschlüssel. Dann kamen die Jacken dran, die Schubladen, die Ablageflächen im ganzen Haus. Auch in der Schule wurden alle möglichen und unmöglichen Ecken abgesucht, aber der Schlüssel fand sich nirgends. Es war zum Verrücktwerden. Ich machte mir klar, was an so einem Schulschlüssel alles dranhängt: eine Schließanlage mit dem Zugang zur Haupteingangstür und zu allen Klassenzimmern. Voller Unruhe musste ich nach einer Woche den Verlust der Schulleitung melden. Aber die Schulleiterin war gnädig mit mir und meint: „Machen Sie sich nicht verrückt, er wird sich schon finden.“ Aber ich machte mich verrückt und fand den Schlüssel nicht. 20.000 Euro würde es kosten, die Schlösser der ganzen Schule zu erneuern. Ob dafür eine Versicherung zahlen würde, war nicht sicher. Ich suchte also weiter. Vielleicht war er beim Fahrradfahren aus der Tasche gefallen. Ich suchte also alle Wege noch mal akribisch ab, fragte im Fundbüro nach, aber meine Suche war vergeblich.
Resigniert saß ich nach etwa drei Wochen in meinem Büro, sah meine große schwarze Handtasche an und leerte noch einmal alles aus. Dann fühlte ich mit der Hand in den verschiedenen Fächern nach und plötzlich spürte ich etwas unter dem schwarzen Innenfutter. Zwischen Futter und Leder war etwas Hartes. Und tatsächlich, da kam der Schlüssel zum Vorschein durch ein Loch ich der Naht. Dort war er irgendwie reingerutscht, der aufgetrennte Faden hatte sich aber dann wohl wieder festgezogen und das Loch verschlossen. So war der Schlüssel in den Abgründen der schwarzen Tasche unsichtbar verschwunden gewesen.
Aber nun war er wieder da! Gott sei Dank! Ich war so erleichtert. Ich war so froh, dass ich sofort die Schulleiterin anrief. Auch den Kolleginnen, die mir in der Zwischenzeit jedes Mal mein Klassenzimmer auf- und zugeschlossen hatten, gab ich freudig die Nachricht weiter per SMS: Schlüssel ist wiedergefunden! Ausrufezeichen! Und dahinter 3 strahlende Smilies. Und mit meinem Mann habe ich an diesem Abend eine Flasche Wein aufgemacht. Denn das musste gefeiert werden.
Als wir an diesem lauen Sommerabend dann auf der Terrasse saßen, die Rotweingläser klingen ließen unter dem Sternenhimmel und die Freude miteinander teilten, hatte ich das Gefühl glückselig zu sein, irgendwie so froh, erlöst und erleichtert, – einfach himmlisch! Und das nur, weil ich den Schlüssel wiedergefunden hatte, der verloren war.

Musik:
Francis Poulenc
Sextet for Piano & Wind Quintett FP 100, 2. Divertissement
James Levine, Ensemble Wien-Berlin

Es gibt sie, solche Schlüsselgeschichten. Geschichten, die neue Räume aufschließen. Geschichten, die uns im ganz Alltäglichen erleben lassen, was himmlische Qualität hat. Jesus hat solche Schlüsselgeschichten erzählt, um die Herzen der Menschen aufzuschließen, aufzuschließen für Gottes Ideen von der Welt. Und dabei geht es immer wieder auch ums Suchen und Finden und um die Freude, die sich dadurch ausbreitet. Und weil unter denen, die Jesus damals zuhörten, viele Frauen waren, hat er auch ganz bemerkenswerte Frauengeschichten erzählt. Eine davon wird im Evangelium des Lukas überliefert im 15. Kapitel. Darin geht es um eine Frau, die zehn Silberstücke hat und eines davon verliert. Natürlich fängt sie sofort an zu suchen, als sie den Verlust bemerkt. Vernünftigerweise zündet sie erst mal eine Lampe an, macht Licht im Haus, um auch die dunklen Ecken durchleuchten zu können. Und dann greift sie zum Besen, kehrt alles gründlich durch. Vielleicht ist das Silberstück ja unter die Kommode oder den Teppich gerollt. Jede Hausfrau kann sich gut vorstellen, was Jesus da erzählte. Und wer wenig Geld hat, wird umso besser verstehen, wie gewissenhaft diese Frau gesucht haben mag, um ihren ganzen Besitz wieder zusammen zu haben. Denn jedes Silberstück bedeutete damals das Überleben für einen Tag. Wer nur 10 Silberstücke hatte, war nicht reich. Aber umso kostbarer war jedes Stück dieser kleinen Währung. Jesus brauchte die Geschichte gar nicht groß auszuschmücken. Die Menschen, die ihm zuhörten, konnten sich die Situation der Frau mit den 10 Silberstücken gut vorstellen. Besorgt war sie, und gründlich musste sie suchen, damit sie endlich das eine verlorene Silberstück wiederfand. Und dann war natürlich die Freude groß. Jesus erzählt: Sie ruft ihre Freundinnen und Nachbarinnen zusammen und sagt: „Freut euch mit mir: Ich habe das Silberstück, das ich verloren hatte, wieder gefunden!“ Und alle Zuhörerinnen und Zuhörer damals werden gespürt haben, wie froh und erleichtert die Frau gewesen ist. Und dann werden sie sich gefragt haben: Warum erzählt Jesus uns diese Geschichte? Das ist doch nicht besonderes. So oder so ähnlich haben das doch viele schon erlebt. Und dann kommt sie, die Pointe der Geschichte, der eine Satz, der die alltägliche Erfahrung zur Schlüsselgeschichte werden lässt. Jesus sagt:
„Genauso wird bei den Engeln Gottes Freude sein über einen sündigen Menschen, der umkehrt.“
Doch: Was haben sündige Menschen mit Silberstücken zu tun? Und warum kann eine arme Hausfrau mit ihren Freundinnen etwas spüren von dem, was Engel erleben?
Eine einfache Geschichte wird tiefsinnig. Das Geheimnis der Liebe Gottes will sie erschließen. Aber dieses Geheimnis ist selber eine lebenslange Geschichte vom Suchen und Finden. Dazu braucht es mehr als gute Worte und kleine Geschichten. Es braucht auch ganz konkrete Taten. Und deshalb hat Jesus diese Geschichte erzählt, als er mit Zöllner und Sündern zusammensaß bei gutem Essen und einem Glas Wein. Er ging auf Leute zu, die erlebten, dass sie von der sogenannten anständigen Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Man hielt sie für eher zwielichtige Gestalten, problematische Zeitgenossen, gefährlich in den Augen der Gesetzeshüter. Jesus aber hat sich interessiert für diese Menschen. Mit Gott konnten sie oft nicht viel anfangen, und doch waren sie auf der Suche nach dem, was glücklich macht. Mit der Geschichte von der Hausfrau bekamen diese Menschen eine Idee von dem, was Gott wichtig ist: Wer sich verloren vorkommt, wird gesucht. Wer sich armselig und wertlos fühlt, ist doch der Mühe wert. Selbst wer in die finstersten Ecke des Lebens abgerutscht ist, soll in Kontakt kommen mit neu entzündetem Licht, soll hervorgeholt werden aus einsamen Ecken in neue Gemeinschaft. Und in dieser Gemeinschaft kommt es auf jede und jeden ganz persönlich an. Da kann nicht einfach verzichtet werden auf 10%. Nein, 10% Schwund oder Verlust ist in dieser Gemeinschaft nicht vorstellbar. Auch die scheinbar hoffnungslosen Fälle sind es wert, gesucht zu werden. Auch wenn es viel Mühe und Zeit kostet und nervenaufreibend sein kann, -es lohnt sich. Das ist die Botschaft, der kleinen Geschichte, die Jesus erzählt hat.
Es gab auch damals Menschen, die empörten sich über eine solche Haltung und Lebensweise. Wie kann man sich nur abgeben mit solchen Leuten, sagten sie und kritisierten Jesus öffentlich. Aber auch für diese Kritiker erzählte Jesus die Geschichte von der Frau, die 10 Silberstücke hat, eins davon verliert und dann mühevoll und gründlich danach sucht. Vielleicht denken die Kritiker ja neu darüber nach, wie die Liebe zu Gott neu konkret werden könnte. Vielleicht üben sie sich darin, andere nicht gleich zu verurteilen als hoffnungslose Fälle. Vielleicht spüren sie, dass die Liebe Gottes immer wieder nach neuen Wegen sucht, Menschen zurückzuholen in eine Gemeinschaft, in der die Freude miteinander geteilt wird.

Musik:
Francis Polenc
Pastourelle, FP 45
Charles Dutoit, French National Orchestra Soloists

Suchen und finden und sich freuen, – das ist ein Grundmotiv des Lebens. So jedenfalls vermitteln es die biblischen Texte der jüdisch-christlichen Tradition. Darin erscheint Gott ganz menschlich, ist unentwegt am Suchen nach denen, die sich enttäuscht abgewendet haben oder die es schwer haben im Leben. Gott kann und will nichts und niemanden einfach links liegen lassen. Die liebevolle Schöpferkraft ist eine beständig Suchende. Und Freude wächst immer wieder und überall da, wo Menschen das für sich selbst und mit anderen gemeinsam entdecken und erleben können: Ich bin ein wertvoller Teil des Ganzen. Ich bin eine Kostbarkeit Gottes, ein Teil des Vermögens dieser liebevollen Schöpferkraft.
Heute würde Jesus vielleicht in einer Teestube für Obdachlose arbeiten und sich an die Stammtische der AfD-Wähler setzen. Er würde sich bei internationalen Friedenskonferenzen einmischen und die Waffenlobbyisten nachdenklich machen. Er würde die Erzieherinnen in den Kitas ermutigen, die mit Familien aus so unterschiedlichen Kulturen arbeiten und er würde denen zur Seite stehen, die als Sozialarbeiter mit und für gewalttätige Jugendliche kämpfen. Jesus würde sich mit an den Tisch setzen im Seniorenheim für demente und pflegebedürftige Menschen und ganz bestimmt würden ihn die Gespräche interessieren, in denen es darum geht, wie soziale Randgruppen wieder mit hinein kommen können in ein soziales Miteinander in gegenseitiger Verantwortung.
Und immer wieder könnte er den Menschen dann diese Geschichte erzählen von der Frau, die 10 Silberstücke hat und eines verliert und solange sucht mit allem was sie hat an Licht und Liebe, bis sie das eine Silberstück gefunden hat. Denn tröstlich ist diese Geschichte für alle, die sich selbst verloren vorkommen. Sie werden gesucht. Ermutigend ist diese Geschichte aber auch für alle, die niemanden aufgeben wollen in dieser Welt. Sie handeln im Sinne Gottes. Motivierend ist diese Geschichte für mich bis heute, denn sie hat ein Happy End. Am Ende hat sich die Suche gelohnt, egal wie mühsam sie war. Am Ende ist da eine Freude, die im Himmel so großartig ist wie auf der Erde, auch wenn es nur ein einziger Mensch ist, der eine heilsame Veränderung in seinem Leben erleben konnte.
Grund zur Freude gibt es im Himmel über den kleinsten Erfolg, den ersten Schritt, der Mensch hoffen lässt, dass es mehr gibt als das, was gerade an Zuständen herrscht.
Sandra Maischberger begrüßte am 24. Januar die Fernsehzuschauer mit dem Satz: Schön, dass sie uns gefunden haben. Und dann stellte sie zwei Menschen vor, die obdachlos gewesen sind: Die eine ist Jaqueline Kessler, eine junge Frau, die erzählt, wie sie nach vielen Jahren auf der Straße inzwischen als Hundesitterin arbeitet. „Das Vertrauen der Hunde zu mir baut mich auf. So traue ich mir selbst wieder mehr zu.“ So berichtet sie es in dieser Sendung. Auch Klaus Seilwinder war Gast in dieser Talkrunde. Als Alkoholiker hat er 8 Jahre auf der Straße gelebt. Er sagte von sich selbst in dieser Sendung: „Es ist gar nicht so einfach den Leuten zu sagen: Ich habe Scheiße gebaut damals, bin vor den Problemen immer weggelaufen, wusste gar nicht, wo und wie ich Hilfe finden kann.“ Aber er wurde gefunden von Menschen, die ihm halfen, ein neues Leben zu finden. „Ich hatte gute Unterstützung“, weiß er jetzt. Inzwischen ist er trockener Alkoholiker, hat er eine eigene Wohnung und arbeitet als Stadtführer in Berlin. Er zeigt seinen Gästen die Stadt und erklärt ihnen dabei, wie und wo Obdachlose überleben. So hat er für sich selbst eine sinnvolle Arbeit gefunden, und gleichzeitig öffnet er Menschen die Augen für das Leben derer, die gerne übersehen werden oder als verloren gelten.
Nach lebenswerten Veränderungen zu suchen, lohnt sich. Das wurde auch mit dieser Sendung ausgestrahlt. Denn immer wieder wird es dabei diese Freude geben, die himmlisch ist. Manchmal schmeckt sie wie guter Rotwein, den ich mit denen trinke, die sich mit mir freuen dürfen über unerwartete Entdeckungen. Manchmal ist es nur ein Schlüssel, den ich wiedergefunden habe, manchmal sind es Schlüsselgeschichten des Lebens, die mir neue Perspektiven schenken und manchmal ist es ein Gottvertrauen, das alles verändert.
Wer sucht, der findet. Auch das hat Jesus gesagt. Ich finde, es lebt sich gut mit dieser Zuversicht.

Musik:
Francis Poulenc
3 Mouvements Perpétuels, 3. Alerté
Charles Dutoit, French National Orchestra Soloists

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