Krumme Finger? Nein, gotische Madonnen-Hände!
Mathilda fand ihre Hände immer ganz normal. Bis sie in den Kindergarten gekommen ist. Beim Bilder-Ausmalen sagt ein Mädchen zu ihr: „Du hast ja krumme Finger! Und deine Haut ist ganz weiß – das sieht ja komisch aus!“ Sofort gucken auch die anderen Kinder Mathildas Hände an und rufen: „Mathildas Finger sind krumm! Mathildas Finger sind krumm!“
Mathilda hat einen dicken Kloß im Hals und rennt schnell auf die Toilette, bevor sie losheult. Da schaut sie sich ihre Hände an. Der Zeigefinger ist tatsächlich nicht kerzengerade, sondern leicht gebogen. Und die anderen Finger haben auch jeder seine ganz eigene Form. Mathilda schiebt die Hände in die Taschen und holt sie nur noch raus, wenn es gar nicht anders geht.
Zu Hause sagt sie erst nichts. Aber dann bricht es doch aus ihr heraus: „Mama, die anderen Kinder sagen, meine Finger sind krumm.“ Die Mutter nimmt Mathildas Hände und sagt: „Aber schau! Deine Finger sind nicht krumm. Du hast Hände wie eine Madonna in den gotischen Kirchen. Hell und schlank und elegant gebogen. Du hast gotische Madonnen-Finger. Die sind ganz selten.“
Mathilda schaut ihre Hände an. Tatsächlich, jetzt sehen sie anders aus als vorhin im Kindergarten. Nicht krumm, sondern kunstvoll gebogen. „Ich habe Madonnen-Finger“, wird sie morgen zu den anderen Kindern sagen.
Mathilda ist inzwischen 70 Jahre alt. Sie erzählt noch heute die Geschichte von den gotischen Madonnen-Fingern, wenn sie auf ihre Hände angesprochen wird. Und sie ist ihrer Mutter bis heute dafür dankbar. Es kommt eben darauf an, wie man eine Sache sieht und wie man sie benennt. Worte machen klein oder sie geben Selbstbewusstsein. Mathilda ist mit 70 noch Madonna!