Schule ist aus
Glückwunsch zum Abitur! Super, dass du es geschafft hast! sage ich. Die junge Frau lächelt. Was willst Du jetzt machen? frage ich sie. Da verschwindet ihr Lächeln plötzlich. "Ich weiß es nicht", sagt sie. "Es gibt so viele Sachen, die mich interessieren. Aber ich weiß absolut nicht, was für einen Beruf ich ergreifen soll. Ich könnte…" Sie machte ein paar rudernde Bewegungen mit den Händen. "Ich weiß nicht… wiederholt sie und senkt den Kopf."
Wir kommen ins Gespräch. Sie will das Richtige tun, höre ich aus ihren Worten, aber sie weiß nicht, was das Richtige ist. Wie soll sie das auch wissen? Mit 18 oder 19 Jahren ist kein Mensch fertig. Da liegt doch noch eine ganze Wegstrecke Entwicklung vor einem. Also könnte man ja erst mal anfangen mit einem Studiengang oder einer Ausbildung in einer Richtung, die interessiert. "Aber", wendet die junge Frau ein, "so einen Beruf macht man doch sein Leben lang, der muss doch zu einem passen." – "Das was Du jetzt beginnst, muss dir nur zu 60 Prozent gefallen", sage ich. "Was, mehr nicht?" Fragt sie erstaunt. "Ja, 60 Prozent reichen."
Es stimmt, man ist sehr lange berufstätig. Aber man ist nicht immer im selben Beruf. Auch Berufe verändern sich. Und innerhalb eines Berufes kann man auch noch Schwerpunkte setzen und sich weiterentwickeln. – Ich kann ihr förmlich ansehen, wie sich ihr Gesicht aufhellt. "60 Prozent reichen", wiederholt sie leise.
Viel zu hohe Erwartungen hatte sie an sich, und kam deshalb nicht weiter. Wie viele Menschen sind unzufrieden mit sich, weil sie sich als nicht 100 Prozentig erleben. Aber die Unzulänglichkeit, die Endlichkeit gehören bei uns Menschen dazu. Nicht nur, was die Länge des Lebens betrifft. Auch innerhalb unseres Lebens sind wir nie 100prozentig gut.
Nicht im Beruf, nicht in der Partnerschaft. Da sind unsere Ansprüche meistens überhöht. Im Beruf und von der Gesellschaft wird es oft so dargestellt, als müssten wir immer 100-prozentig sein. Dabei sind wir Menschen darauf gar nicht ausgelegt. Die100-Prozent-Forderung erzeugt vor allem Stress. Ich lobe deshalb gern, was halb gut ist. Denn halbgut, so 60 Prozent, das ist schon sehr viel.