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Reformation und Pluralität

Reformation und Pluralität

Michael Tönges-Braungart
Ein Beitrag von Michael Tönges-Braungart, Evangelischer Pfarrer, Bad Homburg

Was aus ihrem Kind einmal werden wird, können Eltern nicht ahnen. Hans und Margarethe Luther haben am 10. November 1485 kaum ge-dacht, dass ihr Sohn Martin einmal die Welt verändern würde, dass man noch 2016 über ihn sprechen würde.

Als Luther, heute vor 533 Jahren, geboren wurde, galt den allermeisten das Christentum, wie es die Katholische Kirche lehrte, als die einzig wahre Religion. Heute leben wir in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft. Unterschiedliche Wahrheitsansprüche werden erhoben – auch von verschiedenen Religionen. Aber das führt zum Glück bei uns nicht mehr automatisch zu Krieg und Gewalt. Abscheulich findet es die überwiegende Mehrheit aller Gläubigen – ganz gleich welcher Religion -, dass einige dennoch meinen, ihren Glauben mit Gewalt durchsetzen zu müssen. In unserer Gesellschaft „zivilisiert“ ein demokratischer und religiös neutraler Rechtstaat die unterschiedlichen Wahrheitsansprüche. Das geht auf einen langen Prozess zurück, der in Deutschland mit der Reformation begann.

Martin Luther wollte die Kirche reformieren und keine neue gründen. Dennoch ist es so gekommen. Und so standen sich Mitte des 16. Jahr-hunderts auf deutschem Boden zwei christliche Konfessionen gegenüber. Lange Zeit wurde versucht, das Problem kriegerisch zu lösen. Doch militärisch war der Herausforderung durch unterschiedliche Wahrheitsansprüche nicht beizukommen. Als Lösungsmodell galt lange Zeit: Frieden durch Trennung. Seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 bestimmte der Landesherr die Konfession der Untertanen. Bis heute prägt das die konfessionelle Landschaft Deutschlands. Erst die Flüchtlingsströme nach dem zweiten Weltkrieg haben das stark verändert. Heute sind die Menschen viel mobiler geworden und auch die neu angekommenen Flüchtlinge machen die religiöse Landkarte bunter. Das Modell: Frieden durch Trennung, funktioniert heute nicht mehr.

Mit dem Ende des dreißigjährigen Krieges begann eine Entwicklung, die schließlich zu einem neuen Verständnis von Staat und Verfassung führte. Es galt, das Nebeneinander unterschiedlicher Wahrheitsansprüche in einem Staat zu tolerieren und zu regeln. Die Bürgerrechte wurden von den Religionsrechten unterschieden. Die individuelle Glaubens- und Gewissensfreiheit wurden rechtlich verankert. Der Staat wurde – notwendigerweise – religiös neutral.

Heute treten in unserer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft viele Wahrheitsansprüche in Konkurrenz miteinander. Unser Rechtsstaat ist demokratisch verfasst und kennt keine Staatsreligion. Deshalb kann er dieses Miteinander aushalten und gestalten. Dass sich dieses Modell entwickelte, ist kein „Verdienst“ der Reformatoren oder der Protestanten. Luther und seine Mitstreiter haben daran nicht einmal denken können. Aber sie haben eine Entwicklung ausgelöst, die sich in diese Richtung weiter vollzogen hat. Allemal ein Grund, auch heute noch von ihnen zu sprechen.

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