Neu sehen lernen
Einmal kommt Jesus in die Stadt Jericho. Ein blinder Mann hört davon. Er weiß, wer Jesus ist und auch, dass er Menschen heilen kann. Da fängt er an zu schreien. Er will, dass Jesus zu ihm kommt. Und er hört auch nicht auf damit, als die Begleiter von Jesus ihn zurechtweisen. Ja, er wird nur noch lauter. Da lässt Jesus ihn zu sich bringen und fragt ihn: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ Der Mann spricht: „Herr, dass ich sehen kann.“ Jesus heilt ihn. Der Mann kann sehen.
Blind sein – nicht sehen können. Für den Mann in dieser Geschichte aus dem Lukasevangelium ein schlimmes Schicksal. Er leidet darunter. Er möchte sehen können und ein eigenständiges Leben führen. Dafür riskiert er etwas. Er macht auf sich aufmerksam. Wird laut. Hebt sich selbst hervor aus der Menge. Und lässt sich nicht mundtot machen. Selbst dann nicht, als Jesu Begleiter ihn zum Schweigen bringen wollen. Ich bewundere diesen Menschen. Für seine Hartnäckigkeit. Dafür, dass er sich nicht beirren lässt. Er wittert eine Chance und daran hält er sich fest. Diese Hoffnung richtet ihn auf. Er wird hörbar und sichtbar – und das macht ihn am Ende sehend.
Ich frage mich – unter was leide ich so sehr, dass ich mich das trauen würde? Mich so exponieren. Zu schreien. Gegen alle Widerstände? Mir fällt auf Anhieb nichts ein. Natürlich gibt es dies und jenes, was in meinem Leben besser sein könnte. Auch gesundheitlich. Aber das eine! Etwas, für das ich mich schreiend an Jesus wenden würde. Alle Scham und Schüchternheit vergessend? Da fällt mir die Entscheidung schwer.
Und da merke ich, auch ich bin blind. Anders als der Mann in Jericho. Meine Blindheit ist eher eine innerliche. Ich sehe und sehe doch nicht. Jedenfalls nicht klar. In meinem Alltag bin ich oft so gefangen, dass ich vieles nicht mehr sehe. Die große Not anderer, die Ungerechtigkeit – die Dinge, für die ich auf das Eingreifen Jesu und ein Wunder hoffe.
Es gibt ein Lied, das mir dazu einfällt. Es läuft seit einiger Zeit oft im Radio. Der deutsche Rapper Sido singt es gemeinsam mit dem Singer und Songwriter Andreas Bourani. Es heißt Astronaut. Darin geht es um genau diese Art von Blindheit. Sido besingt, wie schnell Menschen in unserer reichen Gesellschaft sich im Alltag verlieren. So sehr, dass sie nicht einmal mehr darunter leiden – sie vergessen ihre Wünsche und ihre Träume. Sie haben heute schon vergessen, wer sie gestern noch waren – so heißt es im Text. Glücklich sind sie dabei nicht. Blind sind sie. So blind, dass sie zwar auf Gott hoffen, aber das Wunder selbst verpassen.
Erst durch einen Perspektivwechsel wird die Sicht klarer. Der Sänger hebt einfach ab. Entfernt sich aus dem Alltag, der ihn fesselt, und betrachtet die Welt und sein Leben von oben. Und wie er da so durch die Stille des Universums fliegt – da fällt ihm alles wieder ein. Im Lied heißt es: Und beim Anblick dieser Schönheit fällt mir alles wieder ein, sind wir nicht eigentlich am Leben, um zu lieben und zu sein?
So einen Perspektivwechsel wünsche ich mir auch. Abstand von der Welt und dem Alltag. Aber nicht, um mich von ihr zu entfernen, sondern um ihr näher zu kommen. Besser zu erkennen, wie die Dinge zusammenhängen. Besser zu verstehen, was die Menschen brauchen. Zu verstehen, wozu wir eigentlich auf der Welt sind. Einen freien Blick bekommen auch für das Wunder – wenn eins geschieht. Worum würde ich Jesus bitten? Ich wüsste es nun: Eine neue Art zu sehen. Einen neuen Blick für die Menschen und auch für mich selbst. Jesus fragt: „Was willst Du, dass ich für dich tue?“ Ich antworte mit dem Mann aus Jericho: „Dass ich sehend werde, Herr!“