Heilsame Berührungen - und warum sie so wichtig sind
Eine Säuglingsstation in Miami in den USA. Hier liegen zu früh geborene Kinder in Brutkästen. Bei manchen ist fraglich, ob sie überleben. Und wenn ja – welche Schäden werden bleiben? Die Säuglingsstation gehört zum „Touch Research Institute“, also dem Forschungsinstitut Berührung. Hier wird wissenschaftlich erforscht, wie körperliche Berührungen und Massage den Babys helfen, zu überleben und sich zu entwickeln. Die beiden deutschen Fernsehjournalisten Paul Amberg und Halim Hosny haben sich dorthin aufgemacht. Sie wollen sehen, wie das gehen kann. Und sie haben einen Film dazu gedreht: „Fass mich an. Warum Berührung so wichtig ist.“
Sie zeigen die Direktorin des Institutes, Tiffany Field, wie sie den winzigen Rücken eines Frühchens massiert. Sie sagt: Berührung ist für alles wichtig. Für den Körper und für die Seele. Sanft fährt ihre Hand über Kopf und Nacken des Kindes. Sie kann inzwischen nachweisen: Regelmäßige Massage stärkt das Immunsystem und fördert das Wachstum. Ohne liebevolle Berührungen kann das wichtige Hormon Oxytocin – das auch gern Kuschelhormon genannt wird – nicht oder nur ungenügend gebildet werden. Die Ärztin meint: Wir sind „unterberührt“. Nicht nur die Frühchen in den Brutkästen. Sondern auch viele Erwachsene. Wir alle brauchen Berührung, ein Leben lang.
Unterberührt. Das Wort kannte ich noch nicht. Andere sprechen von „unterkuschelt“ und meinen dasselbe. Es beschreibt auf den Punkt gebracht, was viele kennen: Den Mangel an Halt, Sicherheit und Liebe. Kerstin Uvnäs Moberg ist Biochemikerin in Schweden und Berührungsforscherin. Sie meint:
„Wir leben in einer unterkuschelten Gesellschaft. Unser Hauthunger wird nicht mehr zur Gänze gestillt. Wer zu wenig Nähe zu den Menschen hat, die er liebt und denen er vertraut, schüttet weniger Oxytocin aus und wird seelisch und körperlich verletzbar.“ (TAZ vom 30.4.2016)
Die beiden Journalisten, die den Film über die Berührung drehen, fahren nach Leipzig. Sie machen bei einer Kuschelparty mit. Fast 20 Leute kommen zusammen, um sich gegenseitig zu berühren. Dabei geht es nicht um Sex. Die erogenen Zonen sind tabu. Ihre Kleidung behalten sie an. Sie wollen nur das elementare Bedürfnis nach körperlicher Nähe stillen. Der Film zeigt, wie sie sich massieren und streicheln. Am Ende liegen sie eng aneinander gekuschelt am Boden wie in einem Nest. Als Zuschauerin bin ich fasziniert und zugleich ein wenig peinlich berührt. Das geht wohl vielen so. Ob das daran liegt, dass Berührung nicht nur schön, sondern für manche auch schwierig ist? Berührungen können tiefe Gefühle hervorrufen.
Manchmal kommen dann auch schmerzvolle nach oben. Sie erinnern an den Mangel an Nähe oder an alte Verletzungen. Scham gesellt sich dazu. Auch wem der eigene Körper fremd geworden ist, hat Scheu, der Berührung zu trauen. Ich habe mich auf die Suche gemacht, wie in der Bibel von Berührungen gesprochen wird. Da gibt es einige Berichte von unbefangener Nähe. Im Johannesevangelium zum Beispiel. Da wird erzählt, wie sich ein Jünger an die Brust Jesu anlehnt. (Joh 13,23ff) Während des letzten Abendmahls. Davor hatte Jesus allen die Füße gewaschen. Von „Unterberührt“ kann bei Jesus wohl nicht die Rede sein.
Dem Christentum wird nachgesagt, dass es leibfeindlich sei. Massieren, kuscheln, berühren – das verbindet man nicht unmittelbar mit christlichem Glauben. Für den Kirchenlehrer Augustinus zum Beispiel war der Körper das Einfallstor der Sünde. Und zwar deswegen, weil er Lust und Begierden empfinden kann. Damit hat er die kirchliche Lehre seit dem 4. Jahrhundert wesentlich geprägt. In der Folge hat das viel Leiden verursacht. Es gibt leibfeindliche Äußerungen auch in der Bibel. Aber es gibt auch viele Erzählungen über stärkende körperliche Berührungen. So wie diese von der Kindersegnung.
"Sie brachten Kinder zu Jesus, damit er sie anrühre. Die Jünger aber fuhren sie an. Als es aber Jesus sah, wurde er unwillig und sprach zu ihnen: Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solchen gehört das Reich Gottes. (…) Und er herzte sie und legte die Hände auf sie und segnete sie.“ (Markus 10,13.14.16)
Segen wird körperlich weitergegeben. Es ist ein sinnlich-spirituelles Erleben. Viele Menschen suchen es in den letzten Jahren verstärkt. Gottesdienste mit persönlicher Segnung nehmen zu. Dabei werden jeder und jedem Einzelnen die Hände aufgelegt und der Segen zugesprochen. Allerdings wird auch darüber diskutiert: Wie kriegen wir es hin, dabei das richtige Verhältnis von Distanz und Nähe herzustellen? Vor allem bei Kindern. Kinder zu berühren und zu herzen – das ist heute heikel geworden. Zu viele Kinder sind sexuell missbraucht worden. Es wird genauer hingesehen, wenn Erwachsene Kinder berühren. Das ist wichtig. Aber die Angst vor sexuellem Missbrauch hat verunsichert und führt oft dazu, dass Kinder immer weniger berührt werden.
Delaney Becker-Sell hält das für eine Katastrophe. Sie ist Lehrerin an einer Berliner Schule. Sie berührt Kinder immer mal wieder. An der Schulter, am Arm oder am Rücken. Vor allem die Unruhigen und Angespannten. Das hilft ihnen, sich zu konzentrieren. Die meisten Kinder seien wie ausgedürstet, wenn es um Berührungen geht, meint sie. (ZEIT Online 4/2015) Natürlich muss man achtsam vorgehen und genau spüren, ob das Kind das wirklich will. Manche können Nähe kaum ertragen, weil sie das nie kennengelernt haben. Oder auch, weil sie Berührungen wesentlich als missbräuchliche Übergriffe erfahren mussten. Aber Berührung ist so wichtig wie die Luft zum Atmen. Es ist eine elementare Weise, um in Kontakt mit sich selbst zu kommen. Ein Ich zu werden, selbstbewusst und in sich ruhend.
Es werden viele Geschichten über Jesus erzählt, wie er Menschen genau dazu verhilft. Sie kommen zu ihm, Kranke, Gelähmte, Blinde. Sie wollen, dass Jesus ihnen die Hände auflegt und sie heilt. Berührungen können auch bei schwerem Leiden Linderung oder gar Heilung bewirken.
Aber wie ist das mit Menschen, die vor Berührungen zurückschrecken oder sich ihres Bedürfnisses schämen?
Was ist mit Menschen, die Schwierigkeiten mit Berührung haben? Es gibt eine Geschichte aus dem Neuen Testament, die zeigt: Schon die scheue flüchtige Berührung kann heilsame Kraft haben. Es ist die Geschichte von der Heilung der blutflüssigen Frau. Blutfluss – damit ist eine Dauermenstruation gemeint. Nicht nur, dass der stetige Blutverlust körperlich belastend ist – in der damaligen Zeit galt eine Frau während der Menstruation als unrein. Sie sollte dann nicht berührt werden. Wie schrecklich, wenn sich das über viele Jahre hinzieht! Solch eine Störung kann verschiedene Ursachen haben. Häufig sind es seelische Verletzungen oder auch Traumata durch sexuelle Gewalt. Fast alle Frauen, die davon betroffen sind, fühlen sich schmutzig. Sie fühlen sich in ihrem Selbstgefühl als Frau beschädigt, auch heute. Da ist es schwer, ohne Angst einen Mann zu berühren oder ihn zu bitten, heilend die Hände aufzulegen. Die meisten schämen sich tief. Wie diese Frau, von der der Evangelist Markus erzählt.
"Es folgte Jesus eine große Menge, und sie umdrängten ihn. Und da war eine Frau, die hatte den Blutfluss seit zwölf Jahren und hatte viel erlitten von vielen Ärzten und all ihr Gut dafür aufgewandt; und es hatte ihr nichts geholfen, sondern es war noch schlimmer mit ihr geworden. Als die von Jesus hörte, kam sie in der Menge von hinten heran und berührte sein Gewand. Denn sie sagte sich: Wenn ich nur seine Kleider berühren könnte, so würde ich gesund. Und sogleich versiegte die Quelle ihres Blutes, und sie spürte es am Leibe, dass sie von ihrer Plage geheilt war. Und Jesus spürte sogleich an sich selbst, dass eine Kraft von ihm ausgegangen war, und wandte sich um in der Menge und sprach: Wer hat meine Kleider berührt? Und seine Jünger sprachen zu ihm: Du siehst, dass dich die Menge umdrängt, und fragst: Wer hat mich berührt? Und er sah sich um nach der, die das getan hatte. Die Frau aber fürchtete sich und zitterte, denn sie wusste, was an ihr geschehen war; sie kam und fiel vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit. Er aber sprach zu ihr: Meine Tochter, dein Glaube hat dich gesund gemacht; geh hin in Frieden und sei gesund von deiner Plage!" (Markus 5,25-34)
Nicht nur berührt zu werden, hilft heilen. Auch das aktive Berühren. Und sei es scheu und flüchtig. Das liegt wohl daran: Nicht nur der unmittelbare Körperkontakt setzt Heilungsprozesse in Gang, sondern auch die inneren Bilder von Berührung. Schon wenn ich mir das vorstelle, es wünsche und darauf hoffe. Neurobiologen konnten inzwischen nachweisen, welche Macht innere Bilder auf Körper und Gehirn haben. Was in der Seele vorgeht, ist immer auch körperlich. Denn die inneren Bilder und Gefühle machen etwas mit dem Gehirn. Und das wiederum bringt den ganzen Körper ins Ungleichgewicht oder ins Gleichgewicht, je nach dem. Die Forscher drücken das so aus: Innere Vorstellungen aktivieren dieselben neuronalen Netzwerke, wie wenn man das, was man sich vorstellt, direkt leiblich erfährt. Etwas poetischer drückt es der portugiesische Neurowissenschaftler António Damásio aus:
„Die Seele atmet durch den Körper, und Leiden findet im Fleisch statt, egal, ob es in der Haut oder in der Vorstellung beginnt.“
Ich möchte hinzufügen: Dasselbe gilt auch für Freude und Lust. Dass innere Vorstellungen trösten und in Bewegung setzen – davon zeugen viele Bibelstellen. Dort spricht man dann eher von Verheißungen, von einer guten Botschaft, die wahr werden wird.
Die Bibel spricht meist in Bildern, um Menschen zu berühren, zu bewegen und zu ermutigen. Dabei malt sie auch Szenen von körperlichen Berührungen. Hier einige Verse aus dem Jesajabuch. Da wird den Israeliten, die sich als ganzes Volk seit Jahren in babylonischer Gefangenschaft befinden, ein Trostbild gemalt. Eine Zukunftsvision.
"Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt! Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid. Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten des Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an dem Reichtum ihrer Mutterbrust. Denn so spricht Gott: Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach. Ihre Kinder sollen auf dem Arme getragen werden, und auf den Knien wird man sie liebkosen. Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet." (Jes. 66,10-13)
Gesagt ist das erwachsenen Menschen, die fremd sind, weit weg von zu Hause. Ausgesetzt der Feindseligkeit. Herumgestoßen in Flüchtlingsunterkünften. Traumatisiert von der Verschleppung. Ihnen wird verheißen: „Ihr dürft saugen und euch satt trinken an den Brüsten des Trostes.“ Sie haben Schlimmes gesehen. Ihre Stadt wurde zerstört, dem Erdboden gleichgemacht. Sie sind verzweifelt. Und es wird ihnen gesagt: „Eure Kinder werden auf dem Arme getragen werden.“
Das hat es immer gegeben. Krieg und Machtgier zerstören Leiber und Seelen. Den Geschlagenen und Verachteten sagt Gott damals wie heute: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Das sind starke Worte. Sie lassen die innigste Berührung lebendig werden, die es gibt: die Bindung zwischen Mutter und Kind. Und selbst, wenn jemand diese Bindung nicht erlebt hat oder nur ungenügend oder unsicher – solche Worte können beruhigen und stärken. Sie aktivieren die Sehnsucht und Hoffnung. Wer sich auf solche Bilder einlässt, dem kann es geschehen, dass sie von der Seele in den Körper fallen, sich ausbreiten, wärmen und berühren, als wäre man von Gott selbst berührt worden.
Ein letztes Berührungsbild aus der Bibel. Im 131. Psalm wird geschildert, wie ein Mensch sich mit einem inneren Bild selbst berühren kann.
"Ich habe besänftigt und gestillt meine Seele. Wie ein kleines Kind an seiner Mutter, wie ein kleines Kind – so ist meine Seele an mir." (Psalm 131,2, eigene Übersetzung)
Was für ein Bild! Innig körperlich verbunden sein. Meine Seele hängt an mir wie ein zufriedenes Kind an der Mutter. Meine Seele vertraut mir, wie ein Kind seiner Mutter vertraut. Ich versuche erst gar nicht zu definieren, was die Seele ist. Damit haben sich Generation von Philosophen abgemüht, ohne sich zu einigen. Ich lasse mich auf dieses Bild ein. Es gibt viele Stellen in der Bibel, wo ganz unbefangen geschildert wird, wie ein Mensch mit seiner eigenen Seele spricht. Das ist der Versuch, mit sich selbst in Kontakt zu sein. Es geht darum, sich in sich selbst zu beheimaten. Solche Bilder können wirken, wenn wir ihnen erlauben, uns zu berühren. Sie machen uns resilient. Das heißt: Sie stärken unsere Widerstandskraft.
Für viele ist das nicht leicht. Das mag daran liegen, dass Berührungen uns weicher machen, empfindsamer. Oder es fehlt die Muße, bei den berührenden Bildern zu verweilen. Weil wir überschüttet und überschwemmt werden von äußeren Bildern und uns im Gewimmel verlieren. Mir geht es jedenfalls oft so. Dann muss ich mich schützen, auch vor den vielen Bildern, die mich in den Nachrichten anspringen und sich in mir einnisten wollen. Abschottung und Einfach-nicht-Wahrnehmen ist dann vielleicht eine erste Hilfe, aber langfristig ist das keine gute Strategie. Sie macht starr und lähmt. Und: Mit solcher Abschottung entgehen mir auch die stärkenden und beglückenden Bilder.
Die können sehr verschieden sein. Der eine stellt sich vor, wie ein Engel hinter ihm steht und ihm die Hände auf den Rücken legt. Eine andere findet es eher stärkend, sich zu erinnern, wie sie immer ihren Kopf auf die Schulter des geliebten Großvaters gelegt hat. Wieder andere stellen sich lieber einen sicheren Ort vor, an dem sie auf einer weichen Wiese liegen oder in einer warmen Quelle.
Es sind die guten Erfahrungen und Bilder, die uns stärken. Einmassiert und eingekuschelt in unsere Körper. Und eingemalt in unsere Seelen. Wir brauchen sie, um den negativen Bildern standzuhalten. Wir brauchen sie, um handlungsfähig zu bleiben und nicht erschrocken zurückzuweichen vor Kälte und Gewalt. Ich würde jetzt nicht so weit gehen zu sagen: Kuschelpartys sorgen dafür, dass unsere Gesellschaft friedlicher wird. Aber Berührungen – körperliche wie solche, die ich in Bildern sehe – bewegen uns und bringen uns zum Handeln. Es sind die berührbaren Menschen, die eine Gesellschaft wärmer machen.