Wie Begegnungen verändern
Ein Mann kehrt zurück in seine Heimat. Vor zwanzig Jahren ist er weggegangen, er hat sein halbes Leben im Ausland verbracht. Die erste Hälfte, die alte Heimat war weit, weit weg. Aber jetzt kommt sie mit jeder Kurve näher. Immer vertrauter wird ihm die Landschaft, die sanften Hügel lassen lang vergessene Erinnerungen aufleben. Und plötzlich liegt er da, unten im Tal: Der Fluss, der die Grenze markiert, der Fluss, den er so hastig überquert hat damals, vor einem halben Leben. Alles musste ganz schnell gehen. Sein Bruder ist fast ausgeflippt vor Wut, mit bloßen Händen hätte der ihn erwürgt, wenn er nicht abgehauen wäre. Weit, weit weg war das alles – und jetzt ist es mit einem Mal wieder ganz nah. Dieser Mann trägt einen bekannten Namen. Er heißt Jakob. Vor ihm liegt der schwerste Tag seines Lebens: Morgen wird er Esau wiedersehen, seinen Bruder. Jakob und Esau. Zwillinge sind die beiden, und könnten doch unterschiedlicher kaum sein. Eigentlich hätte jeder sein Ding machen können, schiedlich-friedlich. Aber es gibt etwas, das zwischen den Brüdern steht: Esau ist als erster auf die Welt gekommen. Immer schon hat Jakob ihn darum beneidet. Das erste, was die Hebamme von Jakob sah, war seine Hand. Er hatte sich festgeklammert an der Ferse seines Bruders, so, als wollte er ihn im letzten Moment doch noch überholen. Deshalb haben sie ihn auch so genannt. Jakob, das heißt auf Hebräisch: der Fersengrabscher, der hinterlistige Betrüger, der, der seinen Bruder überholen will – mit allen Mitteln. Mit allen Mitteln – das bekommt Esau bald zu spüren. Und er kann damit leben, er hat ein dickes Fell. Aber was zu viel ist, ist zu viel. Auf dem Sterbebett des Vaters das Testament zu fälschen, das hätte Jakob nicht tun dürfen! Esau ist außer sich vor Wut.
Als wäre es gestern gewesen, so genau erinnert sich Jakob auf einmal wieder an diesen Tag. Wie Esau gebrüllt hat! „Dieser alte Betrüger, Jakob – er heißt zu Recht Jakob!“
„Er heißt zu Recht Jakob!“ Das waren die letzten Worte, die Jakob von seinem Bruder Esau gehört hat. Hals über Kopf ist er abgehauen damals, weit weg. Seitdem ist viel passiert. Ein reicher Mann ist Jakob geworden im Ausland, ein erfolgreicher Viehzüchter. Was er angefasst hat, ist zu Gold geworden. Geschäftlich wie privat: Von vier Frauen hat Jakob zwölf Kinder, elf Söhne und eine Tochter. Wenn er sich umdreht und zurückblickt, reicht seine Karawane mit den Herden fast bis zum Horizont. Ein halbes Leben voller Segen. Doch das liegt jetzt hinter ihm, und vor ihm, unten im Tal, sieht er in der Abenddämmerung den Grenzfluss, den Jabbok. Dort drüben liegt das andere halbe Leben – dort drüben lebt sein Bruder Esau. Weit, weit weg war das alles – und jetzt ist es mit einem Mal wieder ganz nah. Unheimlich nah. Jakob hat Angst vor seinem Bruder, vor ihrer Begegnung. Deshalb betet er zu Gott: „Rette mich doch aus der Hand meines Bruders, aus der Hand Esaus, denn ich fürchte mich vor ihm.“ Jakob schickt Knechte mit Geschenken voraus und er aber bleibt allein zurück“. Jakob hofft, Jakob hofft, Gott zu begegnen, oder wenigstens von ihm ein positives Zeichen zu bekommen, vielleicht sogar Segen für sein Vorhaben der Versöhnung.“
Hier deutet sich an, was jeder von uns ähnlich erfahren hat: Erfahrungen mit Gott kann jeder nur für sich selbst machen. Da braucht es Ruhe, Besinnung, allein sein. Im ersten Buch Mose ist die Geschichte von Jakob aufgeschrieben und sie geht so: Jakob stand auf in der Nacht und nahm seine beiden Frauen und die beiden Mägde und seine elf Söhne und zog an die Furt des Jabbok, 24 nahm sie und führte sie über das Wasser, sodass hinüberkam, was er hatte, 25 und blieb allein zurück. Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. 26 Und als er sah, dass er ihn nicht übermochte, schlug er ihn auf das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt. 27 Und er sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. 28 Er sprach: Wie heißt du? Er antwortete: Jakob. 29 Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. 30 Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißt du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst. 31 Und Jakob nannte die Stätte Pnuël; denn, sprach er, ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen, und mein Leben wurde gerettet. 32 Und als er an Pnuël vorüberkam, ging ihm die Sonne auf; und er hinkte an seiner Hüfte.
Für mich ist es kein Zufall, dass diese Geschichte am Fluss spielt. Das Überqueren eines Flusses ist ein in der Tiefenpsychologie bekanntes Symbol der Wandlung und Grenzerfahrung. In vielen anderen Erzählungen steht das Fluss- und Wassermotiv am Anfang einer Wandlung. Man denke nur an den Durchzug durch das Schilfmeer oder an die Bedeutung des Wassers bei der Taufe.
Am Ufer des Jabbok ringt in der Dunkelheit der Nacht ein Mann mit Jakob. Keiner will, keiner kann aufgeben. Er vermag Jakob nicht zu überwinden, obwohl er ihm einen Hüftschlag versetzt. Er bittet Jakob sogar, ihn gehen zu lassen, weil die Morgenröte anbricht. Schnell wird Jakob klar: Dieser ‚Mann‘, der ihn da gepackt hat, ist kein gewöhnlicher Mann. „Lass mich gehen, es wird schon hell!“ fordert der Mann von Jakob. Es ist viel ist darüber spekuliert worden, wer dieser Mann ist? Ein Flussdämon, der nur bei Nacht Furcht hervorruft und dessen Macht schwindet, sobald die Morgenröte einsetzt? Ein Dämon, der einen Menschen überfällt, um ihm zu schaden? Oder ist es Gott selbst? Der Erzähler gibt keine Antwort. Für mich war es kein Flussdämon, weil der Menschen nur Böses zufügt und nicht das Recht hat zu segnen. Es wäre auch zu einfach, es mit einem Engel aufzulösen. Die geben sich in anderen Geschichten in der Bibel immer eindeutig als Boten Gottes zu erkennen.
Ich glaube, dass es Gott war. In dieser Figur des Angreifers in der Nacht zeigt sich Gott in Menschengestalt, mit dem Menschen es augenscheinlich aufnehmen können. Jakob trägt zwar eine Verletzung davon: Einen Schlag auf die Hüfte, so dass er lebenslang hinken wird. Aber Jakob unterliegt nicht nur: Er bewegt Gott dazu, ihn zu segnen: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“. Nun zeigt sich die Macht und Stärke des „Fremden“, die zunächst hinter der augenscheinlichen Schwäche verborgen war. Nur Gott hat die Macht zu segnen. Jakob weiß: Den Weg zu meinem Bruder, meinen Lebensweg kann ich nicht aus eigener Kraft gehen. Dass die Versöhnung gelingt, liegt nicht nur an seinem guten Willen.
Kann man um den Segen ringen, ihn einfordern? Er ist ein doch eigentlich ein Geschenk Gottes. Manchmal hat man keine Wahl: Umkehr und Heilung sind nicht leicht zu haben. Manchmal muss ich kämpfen, um Unterstützung bitten und trage Blessuren davon.
Ich erlebe es ebenso: Um mich mit „meinen Gegnern“ zu versöhnen, brauche ich Kraft und Mut. Den bringe ich oft allein nicht auf und ändere nichts, bleibe im Streit stecken. Da schaffe ich es, mich selbst zu rechtfertigen. „Zum Streiten gehören immer zwei! Und überhaupt, warum soll schon wieder ich es sein, die den ersten Schritt macht?!“ Aber bei Nacht, wenn ich allein bin, dann weiß ich, dass ich mir etwas vormache. „Ich hätte das nicht tun dürfen. Ich bin schuld.“ Es tut weh, das zuzugeben. Ich wehre mich dagegen, mit Händen und Füßen. Aber ich weiß, dass es die Wahrheit ist. Da tut es gut, wenn jemand mich ermutigt und sagt: „Folge Deinem Gewissen und bitte um Versöhnung, steh zu Deiner Schuld.“ Solche inneren Auseinandersetzungen hinterlassen oft Spuren, wenn auch nicht so eindeutig wie an Jakobs Hüfte. Aber das Neue, die Versöhnung, ist es wert. Und es tut auch heute gut, diesen Weg im Segen Gottes zu gehen. Jeder, der frei werden möchte von Schuld, erlebt, dass es auf Dauer keine Lösung ist, davonzulaufen - sich den Problemen nicht zu stellen.
Die Begegnung, das Ringen mit Gott verändert Jakob aber nicht nur äußerlich. Nachdem er um den Segen gebeten hat, fragt dieser Mann Jakob: Wie heißt du? „Jakob“, sagt er nur, „ich heiße Jakob.“ Namen sind für die hebräischen Menschen, der damaligen Zeit keineswegs Schall und Rauch. Sie offenbaren Stand und Wesen, Zustand und Charakter. Wenn Jakob seinen Namen nennen muss, dann kommt seine ganze Identität auf den Tisch. Dann sieht ihn Gott ganz so, wie er ist. Er muss also, wie wir heute sagen würden, eine vollständige Beichte ablegen. Jakob heißt ja, der Listige. Und weil diese Begegnung Jakob verändert, muss sogar sein Name ausgetauscht werden. Ein anderer Mensch muss auch anders heißen, wenn der Name denn irgendetwas über sein Wesen aussagen soll. So hört Jakob die erlösenden Worte: „Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel.“ Israel, der Gotteskämpfer, Israel, der Aufrechte. Du sollst nicht mehr Jakob heißen, du musst nicht mehr davonlaufen. Du musst dich nicht mehr selbst rechtfertigen – ich spreche dich gerecht.“ Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Mann auf Jakobs Frage: „Wie heißt du?“ ihm keine Antwort gibt. Wenn der Name nämlich zugleich auch das Wesen eines Menschen offenbart und somit dem Gegenüber Macht verleiht, so bleibt Gott hier unverfügbar. Er gibt Menschen keine Macht über sich, entzieht sich.
Und dann ist der Spuk auf einmal vorbei, so unverhofft, wie er begonnen hat. Jakob ist nach dieser Begegnung innerlich und äußerlich ein anderer: Er kann hinkend vor seinen Bruder Esau treten. Die Sehnsucht nach Versöhnung ist an die Stelle von List und Betrug getreten, Demut statt Hochmut. Das Ende der Geschichte, die Namensgebung des Ortes Pnuel bestätigt mich in meiner Vermutung, dass dieser Mann mit Jakobs Gott El bzw. Jahwe gleichgesetzt wird. Jakob sagt: Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin am Leben geblieben. Ich weiß, dass es an anderen Stellen im AT heißt: ‚Wer Gott sieht wird sterben‘. Für Jakob war es eine Begegnung auf Leben und Tod. Und so begegnet er auch hier in dieser Geschichte erneut Gott, der nicht auf ein Bild festzulegen ist: Gott hält sich nicht an Regeln, er bleibt unverfügbar, verbirgt sich manchmal unter dem Gegenteil.
Was hat nun Esau davon? Jakob, der alte Betrüger – er hat ja nicht Gott betrogen! Sondern seinen Bruder Esau. Was hat der denn davon, dass Jakob gerecht gesprochen worden ist? Wenn ich im stillen Kämmerlein mein Gewissen erleichtern will, schön und gut. Aber was haben denn die anderen davon, wenn ich ins Reine komme mit Gott?
So fragt sich zum Beispiel der Mann, der eine Kollegin beim Chef schlecht gemacht hat und die wegen dieser üblen Nachrede ein Projekt nicht bekam? Heute ist ihm klar, dass das Unrecht war – aber davon kann sie sich nun auch nichts mehr kaufen. „Und was ist mit der Nachbarin?“ fragt sich eine andere. So viele Jahre haben sie schon nicht mehr miteinander gesprochen – sie weiß ja gar nicht, wie mir das im Magen liegt, dass ich sie damals verletzt habe. Aber was hat sie davon, dass es mir heute leidtut?
Die Geschichte geht zum Glück noch weiter. In der Nacht hat Jakob mit Gott gerungen. Jetzt geht die Sonne auf, dort hinten sieht er Esau schon kommen! Jakob erkennt: Esau ist nicht allein. Das müssen mehrere hundert Mann sein, die er bei sich hat! Eilig ordnet Jakob sein Lager, Frauen und Kinder stellt er hinter sich. Und dann geht er los, seinem Bruder entgegen, Jakob verbeugt sich, nein, Jakob wirft sich zu Boden, immer wieder steht er auf und erniedrigt sich als Zeichen der Entschuldigung vor seinem Bruder. Inzwischen hat Esau zu laufen begonnen, er rennt seinem Bruder entgegen. Ein siebtes Mal noch wirft sich Jakob ihm zu Füßen. Esau zieht ihn hoch, fällt seinem Bruder um den Hals, er küsst ihn. Sie sehen sich an, sie weinen. Jakob noch einmal ganz still.
Leise sagt er zu seinem Bruder: „Esau, heute habe ich dein Angesicht gesehen, wie man das Angesicht Gottes sieht und du hast mich freundlich angesehen.“
Ja, es ist wirklich ein Wunder – ein Wunder, das viele vielleicht auch kennen. So ist Versöhnung. Jakob geht auf seinen Bruder zu, und er gibt zu: „Ich hätte das nicht tun dürfen. Es tut mir leid.“ Ein unglaublich schwerer Schritt ist das, und er wird schwerer mit jedem Tag, an dem wir ihn nicht gehen. Die inneren Kämpfe sind genauso Kräfte zehrend, wie bei Jakob das Ringen in der Nacht. Wenn jemand ins Reine kommt mit Gott, dann bleibt er nicht der Alte. So wie Gott mit Jakob ringt und am Ende segnet, so stellt er auch uns in Frage und hilft aber auch den richtigen Schritt zu gehen. Manchmal scheint es, als ob diese Nacht ewig dauert, und nicht immer geht sie ohne Schmerzen ab. Er vergibt uns – damit wir um Vergebung bitten. „Ich hätte das nicht tun dürfen. Es tut mir leid.“ Ein unglaublich schwerer Schritt, eine Zumutung. Aber Gott mutet mir diesen Schritt nicht zu, um mich zu besiegen. Sondern um mich zu segnen. In dem Moment, in dem sich Nachbarn versöhnen, die sich gegenseitig das Leben zur Hölle gemacht haben; in dem Moment, in dem Mutter und Tochter endlich wieder miteinander reden; in dem Moment, in dem Partner, die zu Konkurrenten geworden sind, einander die Hand geben; in diesem Augenblick wird sichtbar, wie Gott wirklich ist. So wie Jakob es gesehen hat: Jakob sieht Esau ins Gesicht – und erkennt das Angesicht Gottes.