Gottes Ebenbild
Ich sitze im Krankenhaus. In der Neurochirurgie. Mir gegenüber liegt eine Frau im Krankenhausbett. Umringt von einer Menge Technik. Es piept und pumpt aus einigen kleineren Geräten. Es riecht auch ziemlich nach Krankenhaus. Die Frau im Bett hat vor kurzem eine schwere Operation am Kopf gehabt. Wie schwer, das will ich mir gar nicht vorstellen. Der Kopf der Frau ist noch dick verbunden. Der weiße Stoff an manchen Stellen orange, getränkt vom Desinfektionsmittel. Um sie herum die Infusionsschläuche.
Ich lächele sie an. Sie muss ziemlich flach liegen, aber hebt ein ganz klein wenig den Kopf und fragt: „Sehe ich schön aus?“ Das sagt sie mit ernster fester Stimme. Mit einer Art, die auf eine ehrliche Antwort aus ist. Kein Plaudern, dazu ist die Sache zu ernst. Ich schaue sie genauer an, intensiver. Ich weiß nicht gleich, was ich sagen soll. „Ich habe noch in keinen Spiegel geschaut,“ fährt sie fort. „Ich traue mich noch nicht. Mein Anblick wird hässlich sein.“ Sie macht eine Pause. Und sammelt ihre Kraft für dieses Gespräch. Atmet langsam und tief, um Kraft zu schöpfen. Dann wiederholt sie es noch einmal: „Sagen Sie, bin ich schön?“
Ich schaue sie an. Ihr Gesicht mitten in all diesem Verbandsmaterial. Ein bisschen geschwollen und manches ist blau und grün. „Wie es auch ist, Sie sind Gottes Ebenbild,“ sage ich langsam. „So wie Sie sind. Vor der OP und auch jetzt. Sie sind Gottes Ebenbild – und das macht sie schön.“ Ich erzähle ihr frei die Stelle aus der Bibel (1. Mose 1,27), in der Gott den Menschen als sein Ebenbild erschafft. Und dass dieses Ebenbild in jedem Menschen steckt. Dass in jedem menschlichen Gesicht eben auch Gott zu erkennen ist. Dass uns das eine ganz wunderbare einzigartige Würde und Wertschätzung gibt. Und in jedem Menschen sehen wir also ein Stück von Gott an.
Sie nickt kaum merklich nur mit den Augen. Dreht sich ganz vorsichtig und langsam zu ihrem Krankenhausnachttisch. Macht die Schublade auf und holt einen kleinen Spiegel raus. Hält den vor ihr Gesicht. Und schaut und schaut. Ihr Arm sinkt mit dem Spiegel auf die Bettdecke. Und sie lächelt eine ganze Weile und nickt wieder. Ich muss auch lächeln und nicke ihr ein bisschen zu. „Gottes Ebenbild – so wie ich eben bin,“ sagt sie leise. Sie schließt die Augen und atmet tief und langsam. Leise gehe ich raus.