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Einsiedelei mitten in der Stadt
GettyImages/Wenjie Dong

Einsiedelei mitten in der Stadt

Charlotte von Winterfeld
Ein Beitrag von Charlotte von Winterfeld, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt
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Mitten in Frankfurt in der Nähe des Bahnhofs steht der Turm der Weißfrauenkirche. Turm und Kirche stammen aus der Nachkriegszeit. Früher stand hier das Weißfrauenkloster, so genannt, weil die Ordensfrauen weiße Kleider trugen.

Auf der zweiten Turmetage der heutigen Kirche schuf die Künstlerin Andrea Büttner vor einigen Jahren einen Meditationsraum in Form einer Klause. Es ist eine Art Mini-Hotelzimmer, ganz schlicht und einfach. Eine Einsiedelei, in der man sich einmieten kann.

Dieser Raum in der Weißfrauenkirche erinnert an die ersten christlichen Einsiedler im dritten Jahrhundert nach Christus. Diese Wüstenväter damals wollten Jesus Christus radikal nachfolgen und haben gegen die Verweltlichung der Kirche eine neue Bleibe gesucht: in der Einsamkeit der Wüste. Ihr Eremitenleben war bewusst arm und bescheiden. Ein Protest gegen die Gesellschaft. Die Einsiedler haben jede Ablenkung vermieden, um ganz im Dialog mit Gott zu sein.

Manchmal träume ich von so einem abgeschiedenen Ort der Stille. Ich finde: Die Welt ist ganz schön laut geworden. Ständig macht mein Smartphone Geräusche, immer mehr Sprachnachrichten, dazu Radio und Fernsehen, Musik ist jederzeit verfügbar. In der Stadt und oft auch auf dem Land das Rauschen der Autos.

Vielleicht wäre das Turmzimmer der Weißfrauenkirche ja mal ein Ort für eine Aus-Zeit für mich?

Die Klause im Kirchturm liegt aber nicht einsam und abgelegen wie die ersten Einsiedeleien. Im Bahnhofsviertel ist es laut, immer herrscht Betrieb. In der Weißfrauenkirche ist ein Tagestreff für Obdachlose. Und in einem Durchgang bei der Kirche verbringen Menschen ohne festen Wohnsitz oft die Nacht. Sie liegen in ihren Schlafsäcken und hören Radio.

Ob ich dort so richtig zur Ruhe käme? Geht das nicht besser in der Natur oder in der Einsamkeit der Wüste so wie bei den ersten christlichen Einsiedlern?

Andererseits: Vielleicht ist es besser, sich dem Leben in seiner Härte zu stellen und nicht in eine unwirkliche Blase abzutauchen. Wenn ich einen Ort zum Beten und Nachdenken suche, dann vielleicht gerade da, wo die Probleme unserer Gesellschaft direkt vor meiner Tür sind: im Turmzimmer der Weißfrauenkirche im Bahnhofsviertel.

Ein Sprichwort aus Indien sagt: „Die Stille ist nicht auf den Gipfeln der Berge, der Lärm nicht auf den Märkten der Städte. Beides ist in den Herzen der Menschen.“

Das will ich heute mal probieren: Mitten im Lärm meines Alltags im Herzen still zu werden, nur einen Moment lang.

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