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Orte für alle
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Orte für alle

Eva Reuter
Ein Beitrag von Eva Reuter, Katholische Pastoralreferentin, Betriebsseelsorge im Bistum Mainz / Regionalstelle Rheinhessen
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Letztens stand ich im Supermarkt. Ich hatte einen neuen Müsliriegel im Regal entdeckt und wollte herausfinden, ob Haselnüsse drin sind. Gegen die bin ich allergisch und brauche deshalb die Information der Zutatenliste. Es fiel mir schwer, den winzigen Text auf der Rückseite zu entziffern. Mit Mitte vierzig lässt offenbar die Sehkraft nach. Was mir früher leicht gefallen ist, wird über kurz oder lang zum Problem.

Keine Gleichberechtigung mit Handicap

Verglichen mit den Problemen von Menschen mit gravierenden körperlichen Beeinträchtigungen ist meine Sehschwäche nur eine Unannehmlichkeit und es gibt einfache Lösungsmöglichkeiten. Aber die Begebenheit zeigt mir in meinem Leben, worauf die Kampagne #ortefüralle aufmerksam machen will: Es gibt in Deutschland immer noch viel zu viele Orte und Situationen, die verhindern, dass Menschen mit einem Handicap gleichberechtigt am Leben teilnehmen.

Der Slogan der Kampagne lautet „Menschen haben keine Behinderung. Orte schon“. An dieser Formulierung gab es auch schon Kritik: Sie sei einerseits grammatikalisch nicht korrekt und andererseits rede sie die Behinderung von Menschen klein.

Die drei Top-Barrieren in großen Städten

Ich finde die Kampagne trotz der Kritik gut, denn sie macht auf einen Missstand aufmerksam: In unserem Land gibt es immer noch zu viele Orte, an denen nur große, starke und gesunde Menschen gut zurechtkommen. Das sollte zwölf Jahre nach der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtekonvention anders sein, finden die Initiatoren der Kampagne #ortefüralle. Bei einer Umfrage hat man die drei Top-Barrieren in großen Städten herausgefunden: versperrte Wege, schwierige Formulare und schlechter Straßenbelag führen die Liste an.

Es gibt sie schon, die vielen guten Ansätze

Gerade bei kirchlichen Gebäuden ist es oft schwierig, die alte Bausubstanz barrierefrei zugänglich zu machen. Aber es gibt schon viele gute Ansätze. Und manchmal gibt es auch schöne kreative Lösungen. Ich habe von einer Frau gehört, die aus Legosteinen Rampen baut, die kleine Türschwellen für Rollstuhlfahrer*innen überbrücken. Die Frau sammelt dafür gespendete Steine und baut die Rampen ehrenamtlich zusammen. Das sieht nicht nur schön aus, sondern ist total praktisch.

Solche Lösungen wünsche ich mir. Ich finde, wir könnten in vielen Bereichen noch kreativer werden. Bis es soweit ist, hilft es vielen Betroffenen auch schon, wenn hilfsbereite Menschen auf sie zugehen und Hilfe anbieten: Das kann Unterstützung beim Überwinden einer Treppe sein oder das Vorlesen einer kleingedruckten Zutatenliste.

Barrieren...die ich abbauen könnte

Ich denke nicht, dass die körperliche oder geistige Behinderung von Menschen totgeschwiegen werden soll, wenn Barrieren beseitigt werden. Diese Kritik an der Kampagne für mehr Barrierefreiheit kann ich nicht teilen. Ich finde es im Gegenteil wichtig, dass mir als nicht-behinderter Frau jemand sagt, wo Barrieren sind, die ich vielleicht gar nicht wahrnehme, die ich aber abbauen könnte.

In meinem Beruf ist Sprache da auch immer ein Thema. Auch die Verwendung von bestimmten Fachwörtern oder komplizierten Formulierungen schließt Menschen aus. Das möchte ich nicht und gebe mir deshalb Mühe, so einfach wie möglich zu sprechen. Und ich freue mich, wenn es im öffentlichen Raum immer mehr Orte und Situationen gibt, an denen sich alle Menschen wohl und nicht behindert fühlen – eben „Orte für alle“.

 

 

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