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Maria liest
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Maria liest

Andrea Wöllenstein
Ein Beitrag von Andrea Wöllenstein, Evangelische Pfarrerin, Marburg
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Sie liest gern. Wenn sie nicht gerade mit ihrem Kind beschäftigt ist, dann hat sie ein Buch in der Hand und liest. So sieht man es jedenfalls auf vielen mittelalterlichen Bildern. Maria von Nazareth. Als der Engel kommt, um ihr die Geburt ihres Kindes anzukündigen, steht Maria an einem Lesepult. Sie liest in den Psalmen oder beim Propheten Jesaja, der die Botschaft des Engels schon lange vorausgesagt hat: „Und siehe, eine Jungfrau wird schwanger werden, und sie wird einen Sohn gebären …“

Aber - konnte Maria überhaupt lesen? Ein Mädchen aus armen Verhältnissen, zu der Zeit? Das ist eher unwahrscheinlich. Doch weder die Kirchenväter, noch die Verfasser*innen mittelalterlicher Geschichten über die Gottesmutter, wollten sich damit abfinden, dass Maria ein Leben ohne Bücher geführt hat. Die Himmelskönigin – eine Analphabetin? Das konnte nicht sein!
Was hat Maria in dem Augenblick getan, als der Engel kam?“ So fragten sich auch die gebildeten Frauen des Mittelalters. Ihre Antwort war eindeutig: „Sie hat getan, was Frauen unserer Zeit auch tun, wenn sie allein sind und ihr Herz und Ohr für geistige Dinge öffnen: Sie hat gelesen. “Bilder mit der lesenden Maria dienten Frauen als Vorbild. Lesen war Teil der Nachahmung Marias, der „Imitatio Mariae“– nicht nur für die reichen Frauen. Erst im späten Mittelalter ist Maria eine züchtige Jungfrau geworden, die nicht liest, sondern demütig auf den Boden blickt, als der Engel zu ihr kommt. Auch diese Bilder sagen mehr über ihre eigene Zeit, als über Maria. Sie sind Mittel zum Zweck derjenigen, die verhindern wollten, dass Frauen zu viel lesen und zu viel wissen.

Das Bild der lesenden Maria hilft mir zu verstehen, was gemeint sein könnte mit der Lehre von der Jungfrauengeburt. Es ist keine Beschreibung eines biologischen Tatbestands, sondern ein Bild für einen geistigen Vorgang. Maria liest und lässt sich inspirieren. Inspiratio - In diesem Wort ist er drin, der Spiritus, der Geist, von dem der Engel sagt, dass er der Vater des Kindes ist.
Offen sein, neugierig bleiben, sich befruchten, inspirieren lassen von neuen Ideen. Bereit sein, etwas in die Welt zu bringen - darin ist Maria für mich ein Vorbild. Ich lasse mich ansprechen und anregen. Ich komme ins Nachdenken über das, was andere vor mir gedacht haben und bringe es in Verbindung mit meinem eigenen Leben. So geht es mir auch mit der Geschichte von Maria. Sie sagt zu dem Engel: „Ja. Ja, mir geschehe, wie du gesagt hast.“ Sie lässt sich inspirieren und vertraut darauf, dass Gott mit ihr sein wird bei dem, was ihr zugesprochen und auch zugemutet wird.

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