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Inkognito
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Inkognito

Charlotte von Winterfeld
Ein Beitrag von Charlotte von Winterfeld, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt
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Sprecherin: Ingrid el Sigai

 

In Hessen gehen die neuen Erstklässler jetzt seit knapp fünf Wochen in die Schule. Unter ihnen mein Sohn. Die Schule liegt schräg gegenüber. Das macht es uns leicht, unseren Sechsjährigen selbstständig ziehen zu lassen. Morgens gibt es ein Abschiedsritual zu Hause, eine Umarmung, ein Kuss, ein „Mach’s gut und hab einen schönen Schultag!“. Dann geht unser Sohn allein los.

Die Sorge der Eltern

Trotzdem sind wir genauso besorgt wie andere Eltern. Ob er nach der Schule den Weg zum Hort allein findet, haben wir deshalb aus der Ferne beobachtet. Mal vom Fenster aus, mal hinter einem Baum versteckt. Jederzeit hätten wir eingreifen können, wenn etwas schiefgeht, aber er hat es allein geschafft. Und ist stolz darauf.

Gott begleitet uns auch

Wir haben unseren Sohn also begleitet, ohne dass er es merkt. Ich stelle mir manchmal vor: Gott begleitet uns auch so. Versteckt hinter anderen Menschen, unbemerkt in Alltäglichem. Oft nehme ich ihn nicht wahr. Aber Gott ist da. Lässt mich allein machen. Beobachtet liebevoll meine Schritte. Gott könnte zwar eingreifen. Aber er hat es eigentlich lieber anders.

"Manchmal hätte ich auch gern einen Gott, der weniger inkognito auftritt"

Jetzt aber hat mein Sohn sich etwas gewünscht: Er möchte auch mal von mir von der Schule zum Hort gebracht werden. Nur einmal. Natürlich braucht er mich für den Weg nicht mehr. Er kennt die Strecke jetzt schon wie seine Westentasche. Aber mein Sohn wünscht sich das Offensichtliche. Möchte mich anfassen und drücken können, mitten am Tag. Das kann ich verstehen. Manchmal hätte ich auch gern einen Gott, der weniger inkognito auftritt. Das würde manches sehr erleichtern. Zum Beispiel würde es meine Zweifel einfach hinwegblasen.

Warum liebt Gott das Inkognito?

Der katholische Priester und Liederdichter Lothar Zenetti schreibt: „Der Himmel fügt manches, so oder so, aber er liebt das Inkognito.“ Warum ist das so? Warum liebt Gott das Inkognito? Vielleicht will Gott sich nicht aufdrängen. Vielleicht ist das, was in der Welt geschieht, einfach immer auf mehrere Arten zu deuten. Mit Gott. Oder ohne Gott.

Gott lässt uns die Wahl

Gott lässt mir die Wahl, ob ich ihn hinter einem Geschehen vermuten will oder nicht. Das gefällt mir. Wir können unserem Sohn auch nicht eindeutig beweisen, dass wir ihn lieben. Selbst wenn ich ihn jetzt mal von der Schule in den Hort begleite, ist das kein eindeutiger Beweis, sondern nur ein Hinweis. Aber wir haben ihm jetzt verraten, dass wir ihn schon manchmal heimlich aus der Ferne beobachtet haben. Das fand er ziemlich schlau von uns.

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