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Paulus und die Torheit des Glaubens
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Paulus und die Torheit des Glaubens

Dr. Joachim Schmidt
Ein Beitrag von Dr. Joachim Schmidt, Evangelischer Pfarrer, Darmstadt

Wenn der Herbst kommt, wird es ungemütlich auf dem Mittelmeer. Ein Sturmtief nach dem anderen jagt heran. Das ist seit Menschengedenken so. Schiffe, die zum Beispiel vor der Insel Kreta in Seenot geraten, werden oft von einem mächtigen, langsam von Nordost nach Südwest drehenden Schirokko hinaus aufs Meer getrieben, vielleicht hinüber zu den westgriechischen Inseln, vielleicht noch weiter nach Süden. Das ist schon in der fast dreitausend Jahre alten Odyssee des Dichters Homer nachzulesen.

Solches Schicksal ereilte um das Jahr 59 nach Christus auch einen schwerfälligen, großen Handelssegler, der von Myra in der heutigen Süd-Türkei aus mit einer Ladung Getreide aus Ägypten und über zweihundert Passagieren in Richtung Italien unterwegs war. Frachtschiffe unter Segeln waren damals die einzige Reise-Möglichkeit für Passagiere. Die berühmten Galeeren mit vielen Ruderern hatte nur die römische Marine, und da waren Zivilisten unerwünscht. Kommen Sie mit mir, besteigen wir in Gedanken dieses behäbige antike Segelschiff, und lassen wir in unserem Kopf die Bilder dazu entstehen.

Irgendwann im Spätherbst, vielleicht wie jetzt Mitte Oktober, hatte das Schiff glücklich einen Hafen an der Südküste Kretas erreicht. Hier hätte man wegen der drohenden Winterstürme für zwei, drei Monate Quartier beziehen müssen. Aber dann brach der Kapitän gegen alle Vernunft und alle Warnungen doch noch einmal auf. Es kam, wie es kommen musste. Bald nach der Abfahrt verfinsterte sich der Himmel. Ein regelrechter Tornado brach los. Dagegen anzukreuzen, wie es nötig gewesen wäre, war völlig ausgeschlossen. Gegen die Kraft des Windes richtete das Ruder nichts mehr aus.

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Das Großsegel hatte man noch eilig eingeholt und unter Lebensgefahr an der Rah befestigt, aber auch das kleine Vorsegel hing bald nur noch in Fetzen vom Vormast. Viele Tage und Nächte lang trieben das Schiff, seine erschöpfte Besatzung und die angstvollen Passagiere durch eine nasse Hölle aus haushohen Wellen, peitschender Gischt, tief hängenden Wolken und heulendem Wind. Unter ihnen: Ein gewisser Paulus aus Tarsus, römischer Staatsbürger in Haft und sein Bewacher, ein römischer Centurio der kaiserlichen Garde namens Julius. Der Centurio saß mit hängendem Kopf neben Paulus auf einer Bank am Schiffsbug. Die begleitenden Soldaten hingen wie die meisten anderen Passagiere an der Reling. Ihnen war einfach nur schlecht.

Julius: Was denkst du, Paulus, müssen wir sterben?
Paulus: Was soll ich sagen? Ich habe den Kapitän gewarnt. Ich habe ihm gesagt: Bleib auf Kreta, bis die Winterstürme vorbei sind.
Julius: Ich weiß. Aber der Schiffseigner und der Steuermann kennen nichts als Geschäfte. Sie haben den Kapitän unter Druck gesetzt. Fürchten um ihren Gewinn, wenn das Schiff nicht rechtzeitig ankommt.
Paulus: Der Kapitän ist ein Tor. Er setzt alles aufs Spiel. Und unser aller Leben.
Julius: Hast du die Tage gezählt, die das schon so geht? Ich weiß nichts mehr.

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In Gedanken begleiten wir eine Schicksals-Gemeinschaft auf Leben und Tod an Bord eines havarierten Segelschiffs auf dem Mittelmeer vor bald 2000 Jahren. Die Reise wird in der Apostelgeschichte im Neuen Testament detailliert beschrieben. Im Spätherbst des Jahres 59 nach Christus war der Kapitän mit seiner teuren Ladung von ägyptischem Weizen das Risiko der Herbststürme noch eingegangen, und er hatte verloren. Mehr noch: Er transportierte einen römischen Staatsgefangenen samt Bewacher und militärischer Eskorte. Wenn er, der Kapitän, die Sache selbst überlebte und der Gefangene anschließend entkam, konnte ihn das den Kopf kosten. Die Tage und die Nächte auf dem schlingernden und stampfenden Schiff nahmen kein Ende.

Julius: Paulus, du schuldest mir noch eine Antwort. Wie lange geht das hier schon?
Paulus: Zehn Tage. Ich habe jeden Morgen eine Kerbe in die Bank geschnitzt, wenn es hell wurde.
Julius: Hast du keine Angst?
Paulus: Nein: Lach‘ jetzt nicht! Heute Nacht stand ein Engel Gottes neben mir und sagte: Paulus, du musst vor den Kaiser treten. Und alle, die mit dir reisen, die hat Gott dir geschenkt. Euch wird nichts geschehen!1
Julius: Ich habe kein Auge zu gemacht. Und du hast geträumt.
Paulus: Aber nein! Es klingt verrückt, aber es ist die reine Wahrheit! Wir werden gerettet werden.
Julius: Jaja, das ist genau wie diese verrückte Sache mit deinem Gott, der zugelassen hat, dass damals sein Sohn von unseren Leuten gekreuzigt wurde, und er hat sich nicht gewehrt.
Paulus: Du weißt das?
Julius: Man liest die Akten.
Paulus: Und, was sagst du?
Julius: Was soll ich sagen? Töricht, einfach nur töricht. So töricht wie unser Kapitän.
Paulus: Und ich sage dir: Genau in dieser törichten Botschaft vom Kreuz liegt Gottes unendliche Kraft. Wer daran glaubt, wird gerettet. Du auch.
Julius: Das ist mir zu kompliziert. Und ich muss jetzt schlafen.

Begonnen hatte die gefährliche Reise genau genommen schon vor drei Jahren. Die Apostelgeschichte berichtet darüber in den Kapiteln 21 und folgende. Da fasste Paulus in Jerusalem den Plan, seine Botschaft von Jesus Christus bis nach Rom zu bringen, ja vielleicht noch weiter, bis nach Spanien, ans Ende der damals bekannten Welt. Wenig später wurde er von der jüdischen Geistlichkeit bei den Römern angezeigt, er habe Menschen gegen die Juden aufgehetzt. Die Besatzungsmacht tat alles, um religiöse Unruhen zu verhindern. Sie nahm Paulus in Jerusalem fest und überstellte ihn an die Küste nach Cäsarea zum Provinzgouverneur Felix. Dort kam er umgehend ins Gefängnis.

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Volle zwei Jahre zog sich der Verleumdungsprozess gegen Paulus in die Länge. Während dieser ganzen Zeit saß der Angeklagte in Caesarea in Haft. Dann kam ein neuer Gouverneur namens Festus, und die Sache wurde noch einmal von vorne aufgerollt. Nachdrücklich verlangten die jüdischen Rechtsgelehrten immer wieder, Paulus hinzurichten. Der aber erklärte beharrlich, er sei römischer Bürger und verlange einen Prozess vor dem Kaiser in Rom. Festus gab nach, aber Paulus blieb ein Gefangener. Schließlich wurde er im Spätsommer mit einer Wachmannschaft unter dem Kommando eines gewissen Julius auf die lange und beschwerliche Reise in die Hauptstadt des römischen Reiches geschickt.

Ganz sicher haben auf dieser Reise Gespräche zwischen dem Apostel Paulus und dem römischen Centurio Julius stattgefunden, auch wenn niemand weiß, wie sie verlaufen sein könnten. Wir lassen unserer Phantasie jetzt einfach freien Raum. Paulus war Jude, er war gebildet, er war römischer Bürger und er brannte für seine Mission: Die Botschaft von dem gekreuzigten und von Gott aus dem Tod erweckten Jesus Christus bis an die Enden der Erde zu bringen. Er hatte noch große Pläne. Rom sollte für ihn nur eine Zwischenstation sein. Sein Ziel war Spanien, die Grenze der damals bekannten Welt.

Julius: Paulus?
Paulus: Ja?
Julius: Wie hast du das gemeint, dass wir gerettet werden?
Paulus: Wie wir gerettet werden, das weiß ich nicht. Aber wir werden es erleben.
Julius: Aber warum?
Paulus: Das weiß Gott allein.
Julius: Es geht mir nicht aus dem Kopf. Das mit deinem törichten Gott.
Paulus: Du irrst, Julius. Nicht Gott ist töricht. Wir Menschen sind es. All unsere menschliche Klugheit, alle Weisheit, alles, was wir uns ausdenken, ist vor Gott nicht mehr als Torheit.
Julius: Das soll einer begreifen. Hör zu! Bei uns ist es einfach: Die Götter sind da oben irgendwo hinter den Wolken. Die benehmen sich eigentlich wie wir Menschen. Wenn sie Krach haben, wenn sie wütend sind, wenn sie mal fremdgehen: Das kann man verstehen.
Paulus: Ihr nennt ja sogar den Kaiser in Rom einen Gott.
Julius: Richtig: Der Kaiser in Rom ist auch ein Gott. Und der macht es genau wie die anderen Götter, wie man so hört. Kann man auch verstehen. Aber dein komischer Gott? Angeblich hat er ja zugelassen, dass sein Sohn gekreuzigt wurde. Wer soll das denn verstehen? Entschuldige mich, mir ist hundeelend. Ich muss zur Reeling …

Schon seit Urzeiten haben die Menschen ihre eigenen Verhältnisse wie Bilder von sich selbst an den Himmel und auf ihren Gott oder ihre Götter hinter den Wolken projiziert. Die waren zwar weit weg, aber sie benahmen sich wie Menschen. So stellten sich das die Griechen und die Römer vor, und eigentlich ist es bis heute so geblieben.

Viele denken sich Gott am liebsten wie einen alten Mann, der gütig ist und streng, der vielleicht mal wütend wird und Strafen schickt, der aber auch belohnt, wenn man brav war. Und irgendwie soll es immer einen Grund für sein Tun geben, den man als Mensch wenigstens im Nachhinein verstehen kann.

Nur: Genau es ist ja nicht so. Wer heute überhaupt noch an Gott glaubt, der steht oft ratlos vor den vielen Wechselfällen des Lebens. Da passt nichts zusammen mit der rührend-menschlichen Vorstellung eines guten alten Mannes. Vieles ist rätselhaft und dunkel und oft genug wenig tröstlich. So rätselhaft wie das Kreuz Jesu. Das macht es so schwer, an die Kraft dieses Kreuzes zu glauben.

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Die Mannschaft des manövrierunfähigen Seglers im endlosen Herbststurm auf dem westlichen Mittelmeer umspannte das Schiff mit Seilen, um die bedrohlich ächzenden Planken zu stabilisieren. Man warf einen Teil der Ladung über Bord, denn das knochentrockene Getreide zog Wasser und drohte, das Schiff in die Tiefe zu ziehen. Treibanker wurden ausgeworfen, um den Bug des Schiffes in den Wind zu bringen. Aber immer wieder wälzten sich schwere Brecher querab über das Deck und drohten jedes Mal wegzuspülen, was nicht niet- und nagelfest war.

Paulus: Geht’s besser?
Julius: Geht so. Sag mal, Paulus: Nenn mir irgendeinen Grund, warum ich deinen verrückten Glauben teilen sollte.
Paulus: Ich sage dir etwas: Die Juden wollen Zeichen, und die Griechen verlangen große Weisheiten. Ihr Römer tut das auch. Beides kann ich nicht bieten. Ich verkündige Christus, den Gekreuzigten.
Julius: Einen Toten.
Paulus: Das ist es ja: Er ist auferstanden. Er lebt. Gott hat den Tod besiegt.
Julius: Mal ehrlich, Paulus: Versteht das irgendjemand?
Paulus: Es ärgert die Juden, und die Griechen finden es einfach nur töricht. Du ja auch. Aber siehst du: Es gibt auch welche, die sind berufen, das zu verstehen. Das können Juden oder Griechen oder Römer sein, egal. Denen verkünden wir, dass der Christus am Kreuz Gottes Kraft ist und Gottes Weisheit.2
Julius: Schön für die. Und was hilft das mir jetzt, wenn der Kahn sinkt? Sieht nicht so aus, als wäre ich berufen.
Paulus: Woher weißt du das? Das weiß doch niemand vorher. Das erfährst du erst, wenn du dein Herz öffnest.

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Wieder einmal wurde es Nacht. Aber auch der Tag war nicht mehr als eine trübe Dämmerung gewesen. Irgendwo weit westlich von Kreta trieb das Schiff steuerlos immer weiter nach Westen, unter jagenden schwarzen Wolken und zwischen endlosen grünen Wellenbergen. Ein Teil der Schiffsmannschaft unternahm einen Fluchtversuch mit dem Beiboot, aber das wurde verhindert.

Die Schlagseite des Schiffes nahm weiter zu. Die Passagiere banden sich mit Tauen fest, um nicht abzurutschen. Die Proviantvorräte waren längst aufgebraucht. Wasser tranken die Schiffbrüchigen aus Segelfetzen, die sie in den Regen hielten. Unter Deck traute sich niemand. Es wäre eine Todesfalle geworden, wenn das Schiff sinken sollte.

Julius: Paulus, hast du keine Angst?
Paulus: Nein. Wir sind alle in Gottes Hand.
Julius: Verdammt nass und kalt, die Hand! Ist das die Torheit deines Gottes?
Paulus: Ach, weißt du: Das Törichte Gottes ist immer noch viel weiser als wir Menschen, und das Schwache Gottes ist immer noch viel stärker als die Menschen.3
Julius: Und das soll ich glauben?
Paulus: Du sollst nicht, du darfst.
Julius: Sehr freundlich! Dein schwacher Gott hat seinen Sohn am Kreuz sterben lassen. Warum sollte er uns denn hier aus dem Wasser ziehen? Macht doch alles keinen Sinn!
Paulus: Schau, da drüben! Was siehst du?
Julius: Ein weißer Strich hinter den Wellen. Das muss eine Brandung sein. Vielleicht eine Insel!
Paulus: Vielleicht ein Zeichen für Gottes Torheit?

Nach vierzehn Tagen Irrfahrt trieb das Wrack mit den erschöpften Reisenden tatsächlich auf eine Insel zu. In der Apostelgeschichte wird sie „Melite“ genannt.4 Martin Luther hat den Namen mit Malta übersetzt, und lange Zeit glaubte man auch in der theologischen Wissenschaft, es könne eigentlich nur Malta gemeint sein. Heute ist man sich da nicht mehr so sicher. Vielleicht war es auch die westgriechische Insel Kephallenia ganz in der Nähe von Korfu. Aber das ist ein Streit der Fachleute.

Der Wind drückte das Schiff in eine flache Bucht. Der Strand war schon zu sehen. Aber dann gab es einen so gewaltigen Ruck, dass niemand sich auf den Beinen halten konnte. Man war auf ein Riff gelaufen. Die Reste des Schiffes brachen endgültig auseinander. Auf Wrackteilen retteten sich Mannschaft und Passagiere ans rettende Ufer. Drei Monate blieb Paulus mit seinen Bewachern auf Melite. Die Winterstürme waren noch nicht vorüber.

Aber merkwürdig: So ausführlich und mit vielen Einzelheiten die Apostelgeschichte von der dramatischen Seefahrt berichtet, so rasch kommen der oder die Autoren dann zum Schluss: Paulus gelangt schließlich nach Rom, wird von Mitchristen begrüßt, bekommt eine eigene Wohnung, auch wenn immer Bewachung bei ihm ist. Er predigt den Oberen der jüdischen Gemeinde mit eher gemischtem Erfolg, wohnt noch zwei Jahre weiter in Rom und darf ungehindert allen seine Botschaft verkündigen, die zu ihm kommen.

Dann ist plötzlich Schluss. Kein Wort, wie es weiter ging. Kam Paulus jemals nach Spanien? Oder kam es zum Prozess? Wurde er freigelassen oder verurteilt und während der Christenverfolgungen unter dem Kaiser Nero sogar hingerichtet, wie es spätere fromme Zeugen wissen wollen?

Wir wissen es nicht. Aber wie der römische Centurio Julius haben wir auf dieser Reise das Lebensthema des Paulus kennen gelernt: Die Kraft, die aus dem Glauben an Jesus Christus erwachsen kann. Auch wenn dieser Glaube, oberflächlich betrachtet, eine reine Torheit ist.

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