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Erntedank - Gott braucht Mithelfer bei der Ernte

Erntedank - Gott braucht Mithelfer bei der Ernte

Ein Beitrag von Helga Trösken, evangelische Pfarrerin im Ruhestand, Frankfurt am Main

Heute wird in vielen evangelischen Gemeinden Erntedankfest gefeiert. Nicht nur in ländlichen Gegenden werden Lebensmittel jeder Art gestiftet, um die Kirchen besonders schön zu schmücken. Mancherlei Bräuche werden sorgfältig gepflegt. Da gibt es kunstvoll gebundene Erntekronen oder Bilder, die aus Samen und Früchten gelegt werden. Menschen erinnern damit an die guten Gaben, die dem leiblichen Wohl dienen, die uns geschenkt werden, die wachsen und reifen, die geerntet oder weiterverarbeitet werden – Gemüse, Obst und Getreide, Wasser, Brot und Wein.

Auch in diesem Jahr gab es gute Ernten auf Feldern, in Gärten, auf Balkonen – trotz manchmal schwieriger Wetterverhältnisse, trotz Dürre, Hitze und Unwettern. Wir haben viel Grund zum Danken für das tägliche Brot und vieles andere mehr. Martin Luther antwortet im Kleinen Katechismus auf die Frage: „Was heißt das tägliche Brot?“

„Alles, was nottut für Leib und Leben, wie Essen, Trinken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld, Gut, fromme Eheleute, fromme Kinder, fromme Gehilfen, fromme und treue Oberherren, gute Regierung, gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen.“

Für uns heute heißt das: An Erntedank geht es um alles, was unsere Existenz ausmacht: Um die Arbeit, die uns ernährt. Um die Leistung, die wir bringen müssen, damit wir uns etwas leisten können. Es geht um Kollegen und Kolleginnen, die uns im Beruf begleiten, um die Familie, die uns trägt, um Freunde und Freundinnen, auf die wir uns verlassen können.

Erntedank lenkt den Blick auf unsere Lebensbedingungen, auf alle Gaben, die uns geschenkt werden, wofür wir zwar arbeiten und uns anstrengen können, die aber Geschenk bleiben. Zum Beispiel auch:

Ich habe ja nichts dazu getan, dass ich hier geboren und aufgewachsen bin und nicht in einem Elendsviertel am Rande der Welt. Ich kann nichts dafür, dass unser Land, Deutschland, seit bald siebzig Jahren für Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie steht. Ich danke Gott für diese Gaben, für diese Geschenke. Gott sei Dank, dass uns das tägliche Brot nicht ausgeht und die Liebe nicht vergessen wird. Gott sei Dank!

Musik

Es fällt mir nicht leicht, in diesem Jahr unbeschwert und fröhlich Erntedank zu feiern. Weil ich vor Augen habe, was in den letzten Monaten immer wieder zu sehen war: Bilder von geradezu skandalöser Verschwendung von Lebensmitteln. Ein Drittel aller Lebensmittel in Deutschland wird als Müll entsorgt, und zwar nicht nur von Supermärkten, sondern von privaten Käufern und Käuferinnen. Das Angebot ist so reichlich, dass Viele viel zu viel kaufen und dann eben zu viel Reste in die Tonne werfen.

Das gibt es schon längere Zeit, aber in diesem Jahr sehe ich das besonders kritisch. Tausende von Menschen kommen als Flüchtlinge zu uns, die nichts mit bringen als ihr nacktes Leben, und im Kontrast dazu findet sich solch enorme Verschwendung. Dazu kommt die spürbare Krise in manchen Bereichen der Landwirtschaft: Weil die Preise so gedrückt werden, dass Bauern teilweise kaum etwas verdienen können, wird Gemüse vernichtet, untergepflügt, bevor es verkauft werden könnte. Zig Tonnen verrotten auf den Feldern. 50% der Kartoffeln, die in Deutschland wachsen, werden aussortiert und vernichtet. Sie sind nicht schön genug! Sie entsprechen nicht dem Industriestandard in Form oder Aussehen. Für manche Erzeugnisse werden sogar Prämien bezahlt, wenn sie nicht produziert werden, männliche Küken zum Beispiel. Schließlich gelten Quoten für Lebensmittel wie Milch oder Tomaten.

Preise und Kosten, Handelsschranken und die Macht von Monopolen wie zum Beispiel Monsato oder Nestlé wirken bis auf den letzten kleinen Acker. Nicht mehr Wetterbedingungen oder die Natur beeinflussen, was angebaut wird und wachsen darf, sondern die langfristige Planung internationaler Lebensmittelkonzerne, die auch die Preise diktieren. Da bleibt vielen Landwirten keine andere Wahl als der Einsatz von Dünger, Pestiziden und sogar genmanipuliertem Saatgut, um wettbewerbsfähig zu sein. Vielleicht würden auch sie lieber biologisch angebaute und gepflegte Lebensmittel erzeugen.

Der Film „Taste the Waste“, auf Deutsch: „Koste oder probiere den Abfall“, zeigt: In der Europäischen Union werden pro Jahr rund 90 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen, davon sind ungefähr 3 Millionen Tonnen Brot. Damit könnte man ein Land so groß wie Spanien ernähren.

Ich bin im Krieg geboren und kann mich an die Hungerzeit danach gut erinnern. Ich habe wie viele meiner Generation tief verinnerlicht: Brot darf nicht weg geschmissen werden, andere Lebensmittel natürlich auch nicht. Aber Brot wegwerfen, das galt als schlimmstes Vergehen.

Ich weiß nicht mehr, warum alle Erwachsenen damals dieses Verbot, Brot weg zu werfen, so streng nahmen. Vielleicht hatten die meisten in den Jahren des Krieges erlebt, wie wichtig Brot zum Überleben war. Jedenfalls sprachen Überlebende der KZs und ehemalige Kriegsgefangene immer wieder davon.

Gegen die Verschwendung und Vernichtung von Lebensmitteln heute gibt es seit einigen Jahren Widerstand – ganz praktisch. „Tafeln“ sammeln Lebensmittel bei großen Märkten, um sie an Bedürftige zu verschenken. Für viele arme Familien sind diese Tafeln ein Segen.

Daneben gibt es phantasievolle Aktionen, um Lebensmittel vor dem Wegwerfen zu retten. „Containern“ ist eine solche Aktion. Meist junge Menschen suchen in den Abfallcontainern der Supermärkte nach verwertbaren Lebensmitteln. Sie „tauchen“ gleichsam in diese Container und fischen heraus, was genutzt werden kann. Sie kochen damit für sich und ihre Familien oder für fremde Arme. „Teller statt Tonne“ heißt das. Auch eine „Schnippeldisko“ gibt es an manchen Orten. Es gab Versuche, dieses Containern als Straftat, als Stehlen oder Raub, anzuklagen. Bis jetzt ist das immer von Gerichten abgewiesen worden, in Deutschland und auch in Österreich.

Die Erntedank – Altäre in den Kirchen sind heute wieder reichlich geschmückt. Viele Frauen und Männer in den Gemeinden haben dafür Lebensmittel gespendet. Danach werden vielerorts vor allem frische Erzeugnisse wie Kartoffeln, Gemüse, Kürbis oder Obst an die Tafeln gegeben. Der Dank an Gott wird damit zur Wohltat für bedürftige Menschen. Aber angesichts der riesigen Verschwendung und Vernichtung von Lebensmitteln ist das nur der Tropfen auf dem heißen Stein.

Wir feiern also Erntedank in einer von vielen Gegensätzen durchzogenen Welt. Auf der einen Seite Vernichtung von Lebensmitteln, auf der anderen Seite versuchen Menschen, Lebensmittel zu retten durch Tafeln, Suppenküchen oder Containern. Gleichzeitig annoncieren Restaurants Gourmet Menus für einige hundert Euro pro Person, Wein nicht eingerechnet und sind ausgebucht. Kochsendungen im Fernsehen auf mittlerweile allen Kanälen sind sehr beliebt, geben sie doch auch Anregungen, wie bekannte Lebensmittel phantasievoll komponiert zu neuen Geschmackserlebnissen führen können. So wird manchmal die Arme-Leute-Küche der Vergangenheit in Feinschmeckergerichte umgewandelt. Steckrüben werden zur Delikatesse.

Genuss und Vernichtung von Lebensmitteln geschehen gleichzeitig. Not und Luxus bestehen nebeneinander und sind beide Teile unserer Gesellschaft. Was heißt in dieser Situation Erntedank? Was wird gefeiert, wem wird gedankt?

Musik

Erntedank wird in den Kirchen gefeiert, auf Märkten, bei Dorffesten, auch im Frankfurter Palmengarten. Alle Religionen kennen und feiern Erntedank. Ich habe von einem Kind gelesen. Es sagte, als bei Tisch ein Dankgebet gesprochen werden sollte: Warum? Wir haben doch selbst eingekauft, alles bezahlt und selbst gekocht! Der Rapper Sido denkt darüber offenbar anders. Einer seiner Songs heißt „Danke“:

„Das hier ist dein Song. Ja, ich weiß, ich hab oft gesagt, ich glaub nicht – doch jeder Mensch braucht Dich. Ja, auch ich. Es wird Zeit, dass wir beide mal miteinander reden.
Oder dass zumindest ich mal mit dir rede. Hör dir an, was ich zu sagen hab:
Das hier ist kein Gebet. Ich will nur Danke sagen;
Dafür, dass du mir den Engel schickst an manchen Tagen,
dafür, dass du mir das Leben zeigst
für dein Vertrauen dank ich auch, Danke, dass du an mich glaubst.
Das ist kein Schlüssel zum Himmel – ich will nur Danke sagen,
dafür, dass du mir zeigst, ich brauche keine Angst zu haben.
Dafür, dass du mir das Leben zeigst.
Bitte halt mir einen Platz frei in der Ewigkeit“.

Musik

Zur Tradition evangelischer Gottesdienste am Erntedankfest gehören Bibeltexte, die jedes Jahr gelesen und ausgelegt werden. Ich denke heute besonders an den Anfang der Bibel, wo von der Schöpfung der Welt berichtet wird. Gott gibt den Menschen gleich einen Auftrag: Sie sollen die Erde bebauen und bewahren. Sie sollen nutzen, was Gott wachsen lässt, und sie sollen dafür sorgen, dass die Erde gut und bewohnbar bleibt. Davon redet auch der Prophet Jesaja:

„Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus!
Wenn du Leute nackt siehst, bekleide sie, und entzieh dich nicht deinen Mitmenschen.
Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten. Dann wird deine Gerechtigkeit vor dir hergehen, der Glanz Gottes sammelt dich auf. Dann wirst du rufen, und Gott wird dir antworten. Du schreist um Hilfe, und Gott wird sagen: ‚Hier bin ich‘! Wenn du aus deiner Mitte das Joch wegräumst, das Fingerzeigen und die üble Nachrede, und wenn du dich ganz den Hungrigen hingibst und die Niedergedrückten sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufstrahlen, deine Dunkelheit wird wie der Mittag sein. Dann wird dich Gott beständig leiten, Du wirst heißen: ‘Lückenschließerin‘ und ‚die die Pfade wieder herstellt zum Bleiben.“
 (Jesaja 58, 7-12 nach Bibel in gerechter Sprache)

„Brich dem Hungrigen dein Brot und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus“. Das Prophetenwort beschreibt genau unsere Erfahrungen in den letzten Wochen. Flüchtlinge kommen zu Tausenden. Sie suchen Zuflucht und haben unvorstellbar schlimmes Elend erlebt. Sie müssen versorgt werden – mit Essen und Trinken, mit Betten und einem Dach über dem Kopf. Sie brauchen Menschen, die sich ihnen zuwenden, die sie begleiten, oft lange Zeit.

Unzählige Menschen haben das begriffen und sind ehrenamtlich zur Stelle, spenden und kümmern sich, wie es niemand erwartet hatte. Und sie erfahren, was der Prophet beschreibt: Teilen macht reicher. Abgeben macht nicht ärmer. Und umgekehrt: Wenn ich nicht teilen, wenn ich nicht abgeben kann, fehlt mir etwas Wichtiges. Ich bin krank und werde erst gesund, wenn ich an andere denke und für sie sorge.

Also: Allein auf sich bezogen ist der Mensch kein ganzheitlicher Mensch. Er, sie braucht die Beziehung zu Mitmenschen, zur gesamten Schöpfung. Dafür gibt es beim Propheten Jesaja die Ehrentitel „Die die Lücken zumauert und die Wege ausbessert“.

Nicht Lückenbüßer sind gemeint, sondern Menschen, die die Lücken aktiv entdecken und ebenso aktiv daran arbeiten, die entstandenen Schäden gering zu halten, wenn möglich zu beseitigen.

Ich denke dabei nicht nur an Ehrenamtliche, so wunderbar es ist, wie viele sich jetzt engagieren. Ich denke auch an die offiziell Zuständigen, Beamte und Beamtinnen, Angestellte, die in Verwaltungen, auch in der Politik für bessere Gesetze, schnellere Abläufe, großzügige Hilfen sorgen. Die die verschlungenen Wege der Bürokratie zu ebnen versuchen und Sturköpfe erweichen.

Sie alle beweisen: Es ist hilfreich, wenn Menschen aktiv werden und versuchen, die Lücken zu schließen oder die Wege auszubessern. Sie tun das für Flüchtlinge und Fremde, die zu uns kommen und auch für Menschen, die schon lange hier leben, die in den Lücken unseres Sozialsystems hängen bleiben oder aus dessen Sicherungen herausfallen.

An Erntedank erinnern wir uns an Gottes Großzügigkeit, aber auch daran, dass wir nicht alles Gott allein überlassen können. Er braucht unsere Mithilfe. Wir sollen und können Gottes Hände sein. Durch Menschen wird Gottes Liebe für andere erlebbar.

Heute am Erntedankfest sagen wir Gott Dank für alles, was wir zum Leben empfangen haben. Wir sagen Dank für die Schöpfung und die Aufgabe, die uns darin übertragen wurde: sie zu bebauen und zu bewahren. Wir sagen Dank und bitten um Vergebung. Die Wege vor uns müssen ausgebessert werden.

Ich hoffe, dass die vielen Menschen, die zu uns kommen, uns stark machen, miteinander zu tun, was nötig ist. Ich hoffe, dass wir auch durch sie erfahren, was der Prophet Jesaja ankündigt:

„Wenn du dich ganz den Hungrigen hingibst und die Niedergedrückten sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufstrahlen, deine Dunkelheit wird wie der Mittag sein. Dann wird Gott dich beständig leiten, den unbändigen Durst deiner Lebenskraft stillen und deine müden Knochen wieder munter machen. Dann wirst du wie ein bewässerter Garten sein und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. Dann werden deine Leute die Trümmer der Vorzeit aufbauen und die Grundmauern von Generationen wieder aufrichten.“

Stark werden wir, wenn wir trotz allem Mut bekommen, die vor uns liegenden Probleme anzupacken, die Wege zu ebnen und Gott zu helfen. Es reicht dazu manchmal ein kleiner Satz, eine winzige Geste: das erste Lächeln einer Frau aus Syrien, die merkt, sie muss keine Angst mehr haben. Der nach einer Stunde Sprachunterricht hingekritzelte Satz: „Thank you, danke, Deutschland“.

Stark werden wir, am Erntedankfest gemeinsam Dank zu sagen für Gottes gute Schöpfung. Stark werden wir, unsere gefährdete Erde zu bewahren – in dem Sinn, wie es das Lied besingt. „Wir pflügen, und wir streuen den Samen auf das Land, doch Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand“.

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