Unter diesem Grün liegt ihr Vater
Eine ältere Freundin hat mich gefragt, ob ich nicht mit ihr nach Polen reisen kann. Sie will das Grab ihres Vater besuchen. Sie hat ihn nie kennengelernt. Er liegt auf einem deutschen Soldatenfriedhof. Es ist eine lange Busfahrt. Irgendwann sind wir da. Ich hatte einen Wald von Kreuzen erwartet. Hier, wo wir jetzt stehen, ist nichts als Grün. Rasen. Ab und zu mal 3 Granitkreuze, die die Kriegsgräberfürsorge aufgestellt hat.
Der riesige Rasenplatz ist ummauert. Hier liegen einige Tausend Menschen. Eine polnische Frau kommt mit einer großen Karte. Freundlich und hilfsbereit zählt sie mit Schritten ab, wo der Vater meiner Freundin liegt. Wir schreiten vorsichtig hinterher. Dann stehen wir auf dem Grün. Hier liegt Ihr Vater, sagt die Mitarbeiterin des Friedhofs. Es ist nichts zu sehen. Nichts außer grün. Ich schaue meine Freundin von der Seite an. Ob sie enttäuscht ist? Sie guckt aufs Grün. Ich auch.
Ich denke an einen Film, den wir vor dem Besuch auf dem Friedhof gesehen haben. Da wird dokumentiert, wie der Friedhof angelegt wurde. So … Kisten, Kästchen, vielleicht 40 Zentimeter lang, liegen hier unter dem grünen Rasen. Akribisch hat man alles eingesammelt und dort hineingelegt, was man irgendwo an einer Straße fand. Und hierher umgebettet.
Heute vor 70 Jahren war der Zweite Weltkrieg zu Ende. Ich denke an den toten Soldaten dort unter uns. Tausende liegen neben ihm und Millionen woanders, viele haben nicht mal ein Grab, keinen Ort der Erinnerung. Verbrannt, verweht, ausgelöscht. Meine Freundin hat ihren Vater nie kennengelernt. Als sie auf die Welt kam, war er schon tot. Alt ist er auch nicht geworden. Sie sagt laut: „Darum! Darum setze ich mich jetzt für Frieden ein!“ Sie schaut sich um und überschaut all die unsichtbaren Gräber, die unsichtbaren Kisten mit Knochen. „So sinnlos!“ schließt sie und legt eine Rose aufs Grün. Streicht über den Rasen. Ganz vorsichtig.
