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Nächstenliebe braucht die Flügel der Fantasie

Nächstenliebe braucht die Flügel der Fantasie

Ein Beitrag von Helwig Wegner-Nord, Evangelischer Pfarrer, Frankfurt

Seit etwa einem Jahr gibt es in Frankreich ein interessantes Gesetz. Das erlaubt es, eigene Urlaubstage an Kollegen zu verschenken. Davon wurde schon ein paar Mal Gebrauch gemacht. Wie toll das ist, wird am Beispiel eines Busfahrers der Verkehrsbetriebe aus dem südfranzösischen Nizza deutlich.

Der heißt Karim Zaouai und kann jede Menge arbeitsfreie Tage gebrauchen, viel mehr als er selbst Urlaubstage hat. Denn seine Frau ist schwer erkrankt, als sie während einer Schwangerschaft eine Hirnblutung erlitten hat. Sie und das erwartete Kind würden, das war abzusehen, eine ganze Zeit lang viel Aufmerksamkeit und Pflege brauchen. Noch während der Schwangerschaft im letzten Sommer haben Karims Kollegen eine Sammelaktion gestartet. Innerhalb einer Woche wurden von 200 Kollegen insgesamt 362 unverbrauchte eigene Urlaubstage gesammelt und mit Zustimmung des Arbeitsgebers auf Karim übertragen.

Manchmal braucht Barmherzigkeit die Flügel der Fantasie. Und zugleich auch einen klaren Kopf. Wenn ich davon höre, dass diese Familie gleich ein ganzes Jahr zusätzlichen bezahlten Urlaub braucht, ist ja die erste Reaktion: da kann ich ihnen auch nicht helfen. Aber beim zweiten Blick auf die wirklichen Möglichkeiten, die wir haben, zeigt sich: jeder seiner Kollegen hat ja nur einen oder zwei Tage von seinem eigenen Urlaub abgetreten. Zwei Tage? Das ist so wenig, dass man es ja kaum spürt.

Für mich zeigt diese Busfahrergeschichte, dass Nächstenliebe und Barmherzigkeit vor einer harten und schweren Wirklichkeit nicht ausweichen müssen. Denn Nächstenliebe und Barmherzigkeit tragen in sich als eine wichtige Eigenschaft die Fantasie für das trotzdem Mögliche. Die Wirklichkeit ist keine Mauer, vor der ich rechtzeitig ausweichen muss, damit ich nicht dagegen renne. Sondern sie fordert mich heraus, lässt mich nachdenken, was Nächstenliebe bedeutet: was ist hier möglich, was geht hier?

Der österreichische Schriftsteller Robert Musil hat mal einen ungewöhnlichen Gedanken beschrieben. Er sagt wörtlich: das Mögliche umfasst „auch die noch nicht erwachten Absichten Gottes“. Ich weiß nicht, ob ich wie Robert Musil so über Gottes Absichten sprechen und spekulieren möchte. Aber: Wer weiß, ausschließen will ich nicht, dass da in Nizza, ganz überraschend, Gottes Absichten zu Tage gekommen sind.

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