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Etwas verlieren können

Etwas verlieren können

Stephan Krebs
Ein Beitrag von Stephan Krebs, Evangelischer Pfarrer, Langen

In Hessen schlummert ein riesiger Erfahrungsschatz, der kaum beachtet wird. Nämlich der, wie man es verkraftet, etwas ganz Wichtiges zu verlieren. Gemeint ist die Heimat. Bei jedem fünften Hessen und bei jeder fünften Hessin gehört diese bittere Erfahrung zur eigenen Familie. Und da sind die, die in letzter Zeit zu uns kommen, noch gar nicht mitgerechnet. Gemeint sind nur die eine Million Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Hessen kamen: geflüchtet oder vertrieben aus Ostpreußen, Schlesien, Böhmen und vielen anderen Gebieten in Osteuropa.

Mittlerweile haben sie Kinder und Enkel, die alle etwas davon in sich tragen und in ihre Familien mit einbringen. Heute, am zweiten Sonntag im September, ist ihr Tag: Der Gedenktag für die Opfer von Flucht, Vertreibung und Deportation. Das kann anregen, sich Gedanken zu machen: Wie ist das, die Heimat zu verlieren? Dafür gibt es ja viele Gründe – dazu gehört die Suche nach Arbeit oder einer Ausbildung, aber auch dramatische Gründe wie Krieg und Vertreibung. Den Betroffenen tut es meistens gut darüber zu sprechen.

Einen will ich vorstellen: Ich nenne ihn Gerhard. Er hat es geschafft, über seinem Schicksal weder seelisch zu zerbrechen noch seinen Glauben zu verlieren. Und das imponiert mir. Ich besuche ihn zum 80. Geburtstag. Über seine Vertreibung aus Tschechien will er eigentlich gar nicht reden. Zu gut kennt er das Desinteresse, mit dem sich viele Leute das Thema vom Hals halten. Zu gut kennt er auch die ideologischen Debatten um Schuld und Gegenschuld in der Nazi-Zeit. Darauf hat er keine Lust. Aber dann spürt er mein persönliches Interesse an ihm. Und so beginnt er zu erzählen, wie weh es tat: Sie mussten den Ort verlassen, an dem die Familie seit Generationen gelebt hatte. Alles Vertraute ging verloren: die Nachbarn, Freunde, alles Hab und Gut.

Hinzu kam eine tiefe Kränkung: Bis dahin waren sie angesehene Bürger gewesen. Plötzlich waren sie Ausgestoßene, die man einfach verjagte. Sie kamen mit fast nichts in ihren Taschen nach Hessen und wurden verteilt. Gerhard macht eine Pause, dann sagt er: „Es hätte uns schon gut getan, wenn uns jemand zugehört hätte. Einfach mal angehört, was wir erlebt haben. Aber so waren die Zeiten nicht. Alles war knapp: Essen, Wohnraum und Mitgefühl. Alle waren seelisch abgestumpft vom Elend des Krieges und von der Unterdrückung der Nazis.“ Im Stillen denke ich: Das geht vielen Trauernden heute auch so. Jemand verliert seine Mutter. Er ist aus der Bahn geworfen und voller Schmerz. Aber um ihn pulsiert das Leben unbeeindruckt einfach weiter.

Musik: Seqeuenz aus dem Gospel „Motherless Child“

Ein Mann – ich nenne ihn Gerhard – erzählt mir, wie er als Kind aus seiner Heimat in Tschechien vertrieben wurde und nach Hessen kam. Gerhard erinnert sich: „Am Anfang sind wir im Heimweh versunken und dachten: Das hört nie wieder auf. Aber das stimmt ja nicht. Irgendwann zieht sich das Heimweh zurück und macht Platz für Neues. Bis dahin haben wir es mit Arbeit bekämpft.

Arbeit ist eine gute Therapie. Vor allem, wenn man sich damit eine neue Heimat aufbauen kann.“ Aber die Trauer braucht schon ihren Raum. Und wenn sie keinen bekommt, dann sucht sie sich einen. Gerhard sagt: \"Ein guter Platz dafür ist der Gottesdienst. In der Kirche kannst du traurig sein, ohne dich zu schämen und ohne Angst zu haben. Da schaust du einfach anders auf das Leben, zusammen mit den anderen, und das kann sehr tröstlich sein.“ Gerhard erzählt von einem solchen Moment. „Einmal saß ich in einem Gottesdienst. Es war September, es war warm und die Sonne schien. Wir haben ein fröhliches Lied gesungen: ‚Die güldne Sonne, voll Freud und Wonne‘. Dann kam eine Strophe, die hat mich getroffen wie ein Blitz“ (EG 449,8).

Alles vergehet, Gott aber stehet ohn´ alles Wanken,
sein Wort und Wille hat ewigen Grund.
Sein Heil und Gnaden, die nehmen nicht Schaden,
heilen im Herzen die tödlichen Schmerzen,
halten uns zeitlich und ewig gesund.

„Die zwei kleinen Worte am Anfang – darin steckt unser ganzes Schicksal: Alles vergehet“. „Dann“, sagt Gerhard, „kommt der Gegenpol: ‚Gott aber stehet ohn´ alles Wanken‘ – ja, er ist das einzige, was wirklich immer bleibt, der ewige Fels in der Brandung. Mir war Gott immer nah, in allen Zeiten.“ Nach einer kurzen Pause ergänzt Gerhard: „Für andere war das nicht so. Sie haben sich vom Glauben abgewandt. Jemand hat zu mir gesagt: Einen Gott, der das alles zulässt, den brauche ich nicht! Aber mir ging es anders.

Das Lied sagt über Gott: ‚Sein Wort und Wille hat ewigen Grund.‘ Darüber habe ich viel nachgedacht. Hat Gott es so gewollt, wie es gekommen ist? Ich weiß es nicht. Aber irgendwie hatte der Gedanke für mich immer etwas Tröstliches: Alles hat einen ewigen Grund. Auch wenn ich ihn jetzt noch nicht sehe.“ Gerhards Gedanken hängen dem Lied nach. Er murmelt: „Heilen im Herzen die tödlichen Schmerzen“. Dann sagt er unvermittelt: „Das haben manche meiner Leidensgenossen leider nicht geschafft. Sie meinten, ihr Schmerz kann nur heilen, wenn das Unrecht, das sie erlitten haben, offiziell anerkannt wird.“

Dazu sagt Gerhard: „Klar, wenn dir etwas Schlimmes passiert, dann suchst du einen Schuldigen. Für uns wäre es schon hilfreich gewesen, wenn die Tschechen gesagt hätten: Wir haben euch Unrecht getan. Aber all die wütenden Reden von manchen Vertriebenen, die Rufe nach Entschädigung – das war mir peinlich. Was wir verloren hatten, war mit Geld doch gar nicht aufzuwiegen. Die Tschechen hätten es sowieso nicht gehabt, die waren doch selbst im Sozialismus verarmt. Es gab auch nichts mehr zurückzugeben. Denn das, was uns wirklich wichtig war – das gemeinsame Leben vor Ort – das war weg – weg für immer!

Gesund werden kannst du nur, wenn du das wirklich verstehst. Wenn du gesund werden willst, dann darfst du nicht darauf warten, dass andere ihr Unrecht einsehen – oder auch nicht. Andere können dich nicht heilen. Das kannst du nur selbst tun.“ Gerhard merkt, dass er sich nun doch in Rage geredet hat. Er steht auf und geht zu einem Schrank. Dort holt er eine Schallplatte raus. „Hab ich mir gekauft“, sagt er. „Nach einem Gospel-Konzert in der Kirche. Er legt ein Stück auf und sagt: „So fühlt es sich an.“

Musik: „Motherless Child“

"Manchmal fühle ich mich wie ein mutterloses Kind – weit, weit weg von zuhause."

„Das Lied ist schön, schön traurig“, sagt Gerhard. „Das erleben viele. Wirklich viele. Das habe ich bei diesem Konzert verstanden. Es ist das Lied von afrikanischen Sklaven, die aus ihrer Heimat deportiert und in ein fremdes Land gesetzt wurden, nicht um neu anzufangen, sondern um als Sklaven für andere zu schuften. In Gott finden sie ein Stück Heimat, die ihnen niemand nehmen kann. Die Sklaven hatten es viel schlimmer als ich. Ich hatte zumindest meine Freiheit. Ich konnte neu anfangen. Verlieren, Trauern, Neuanfangen – das gehört zum Menschsein dazu.“

Dann erzählt Gerhard von seinem Beruf. Er war Schriftsetzer, wurde nicht mehr gebraucht und mit Anfang 60 vorzeitig in den Ruhestand geschickt. Er sagt: „Meinen Beruf gibt es gar nicht mehr. Auch der ist weg – für immer. Wie so vieles.“

Das ist der Moment, in dem ich mich traue, ihn zu fragen: „Haben Sie als Vertriebener mehr Verständnis als andere für die vielen Flüchtlinge, die jetzt nach Deutschland kommen – etwa aus Syrien und Afrika?“ Gerhard schaut mich an. In seinem Gesicht sehe ich einen genervten Blick und zugleich ein nachsichtiges Lächeln. Dann sagt er: „Sollte ich vielleicht. Aber ich bin nicht besser als die anderen. Mir ist das Thema lästig und ich habe Angst davor. Sie sind Afrikaner und Syrer und wer weiß. was noch. Ich bin Deutscher. Aber tief im Inneren habe ich doch Mitleid mit ihnen. Ich weiß eben, wie das ist, seine Heimat zu verlieren. Ich weiß auch, wie das ist, irgendwo anzukommen und niemanden interessiert es. Da brauchst du einen festen inneren Halt und du musst hart arbeiten. Dann kannst du es schaffen.“

Musik 3 „Motherless Child“

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